In den Turbulenzen der jüngsten Zeit hat man das vermeintlich überflüssige Papier, die Verfassung, lieben gelernt; ebenso wie den Bundespräsidenten, der in seine väterlich-mahnende Rolle hineingewachsen ist; die Expertenregierung tut nichts – und das schätzen die Österreicherinnen und Österreicher. Wahlen kommen im Herbst. Einstweilen herrscht „Zwischenzeit“.

Doch es tut weh, den aktuellen Politikbetrieb zu beobachten. Das ist nicht zu verstehen als übliche besserwisserische Politikschelte, ressentimentgeladene Selbsterhöhung, unbedarftes Wutbürgertum. Es ist auch nicht Teil der aktuellen Populismuskritik, bei der mit den gleichen Methoden wie jenen der Populisten mutig die offenen Türen urbaner Milieus eingerannt werden. Die Beobachtung des vorderhand ins Unwirkliche verschobenen politischen Geschehens tut deshalb weh, weil diesseits von Verfassung, Präsident und Experten Gemeinheiten triumphieren, die mit großer moralischer Emphase dekoriert werden; weil die Verfolgung enger parteipolitischer Interessen mit höchsten Tonlagen des ethischen Vokabulars übertüncht wird; weil besonders dann, wenn mit den kleinsten Emotionen hantiert wird, die größten Werte der Aufklärung angerufen werden; weil man sich vor lauter Würde und Menschenrecht gar nicht mehr einkriegen kann, wo es in Wahrheit nur darum geht, dem Gegner eine zu „verpassen“. Es ist diese Diskrepanz, diese Kluft, diese Unvereinbarkeit, diese Heuchelei, die auf den Magen drückt. Moralisierende und moralisierte Unmoral. Das ruiniert die Demokratie.

Das ist ein Systemproblem. Denn Rechts- und Verfahrensregeln, Institutionen und „Apparate“ geben einen Rahmen, aber sie reichen insofern nicht hin, eine demokratische Ordnung zu betreiben, als es ohne einigermaßen kompatible „Menschen“ nicht geht. Diese sollen freilich nicht überschätzt werden. Einerseits: Die Leistungsfähigkeit von Systemen erweist sich daran, dass man keine Genies und keine Heiligen braucht, um die Kommandohöhen zu bestücken, sondern dass sie auch mit ziemlich durchschnittlichem Personal einigermaßen funktionsfähig bleiben. Andererseits: Es muss wenigstens ein Minimum an Konsens, an Verstehens- und Kompromissbereitschaft, an Respekt, an „politischer Tugend“ geben, zumindest bei der Mehrheit der Akteure, um das System am Funktionieren zu halten.

Bei aller (durchaus gerechtfertigten und wünschenswerten) Vielfalt von Weltsichten und Interessenlagen, von Programmen und Deutungen gilt doch: Ein gewisses Substrat an Gesinnung lässt sich als demokratienotwendige Randbedingung verstehen. Den anderen nicht nur als verabscheuungswürdigen „Feind“ betrachten. Eine wenigstens residuale Verpflichtung auf ein „Gemeinwohl“ aufrechterhalten. Europäische Werte nicht nur ritualistisch beschwören, sondern darin auch eine Konsensmöglichkeit finden. Wenn solche Grundhaltungen nicht mehr vorhanden sind, häufen sich Dysfunktionalitäten. (a) Es gibt dann nur noch wechselseitige Blockaden. Blockieren nicht nur, wenn der andere das „Falsche“ vertritt, sondern vor allem dann, wenn er das „Richtige“ vorschlägt; denn der Erfolg ist ihm nicht zu gönnen. (b) Es kommt zur Geldverschleuderung, weil man spezifische Cluster von „eigenen“ Wählern bedienen zu müssen glaubt. (c) Man zielt auf wechselseitige Schädigung: Gesetze so zurechtschneiden, dass sie den anderen oder ihrer Wählerschaft schaden, während die eigenen Interessen, Organisationen und Klienten unangetastet bleiben. (d) Die Bedürfnisse und Ansprüche des Augenblicks befriedigen, zulasten der Zukunft. (e) Die nationalen Wünsche der Wählerschaft systematisch internationalen Belangen vorziehen. – Auf jeden Fall kommt es zur wechselseitigen Diskreditierung, die insgesamt die verbliebene Legitimität des politischen Handelns aufzehrt.

Verbiegen, Verdrehen, Manipulieren

Die demokratischen Institutionen sind, nach langer Vorgeschichte, dem Aufklärungsdenken entsprungen, sie brauchen ein Minimum an Diskursrationalität, Wahrheitsrespekt, Anstand. Sie setzen eine Öffentlichkeit voraus, die zumindest bescheidensten Vernunftansprüchen genügt und Wahrheiten nicht schlichtweg leugnet. Wenn dieser Geist entweicht, sind es hohle Gefäße.

Man kann aber die Akteure beobachten: Pressekonferenz, Statement, Interview. Es geht nicht nur um das Verbiegen und Verdrehen, Manipulieren und Beschwören. Vielmehr wissen sie genau, dass sie Humbug von sich geben. Sie wissen, dass sie Intransparenz meinen, wenn sie Transparenz sagen. Dass sie für jede Unwahrheit, die sie äußern, dreimal das Wort Vertrauen fallen lassen müssen. Sie sind nicht dumm, sie wissen, dass die Beobachter auch wissen, dass sie Unsinn reden: Fakes und Bullshit. Was denken sie, wenn sie nachts nicht schlafen können? Wenn sie wissen, dass sie als miese Akteure in die Archive Eingang finden? Da kann es doch auch nicht helfen, dass irgendeine Wähler- und Funktionärsgruppe trumpistisch allemal applaudiert, wenn man in den Dreck greift.

Politik ist kein Mädchenpensionat (so hätte man früher gesagt). Da soll man nicht naiv sein. Aber auch ein wohlverstandenes, moralisch akzeptables Selbst- und Machtinteresse entbindet (sogar im Wahlkampf) nicht von jeder Verantwortung.

Wahrheit fehleranfällig

Man sollte auch im Bewusstsein halten, dass die eigene „Wahrheit“ fehleranfällig ist – das ignorieren linke und rechte Dogmatiker, religiöse Fundamentalisten, naive ebenso wie interessengeleitete Menschenrechtsabsolutisten und nebulöse Retro-Heilsverheißer. Sie sind bequem gegen sich selbst: Gegen das eigene Denken, welches zu fundieren, und das eigene Wünschen, welches zu disziplinieren wäre. Wenn es diesen Anspruch gar nicht mehr gibt, bleibt dem Beobachter nur das Erschrecken über deren Nichterschrecken vor der eigenen Skrupellosigkeit oder Simplizität.

Man hat eine geziemende, aber eben auch funktionsnotwendige Haltung früher in den mittlerweile weitgehend verschwundenen Begriff des „Anstands“ gefasst. Ohne „Minimalanstand“ geht Demokratie nicht, und dieses politische System ist mittlerweile auch in der westlichen Welt bedroht. Mit dem Anstand ist es ähnlich wie mit der Pornografie; einem bekannten Wort zufolge gilt: Man kann es schwer definieren, aber man erkennt es, wenn man es sieht.