Kirchenglocken am Morgen, zwitschernde Vögel und Straßenlärm – die Geräuschkulisse, die einen umgibt, beinahe selbstverständlich und manchmal gar nebensächlich. Das Lachen von Freunden und Familie zu hören, Freude und Trauer in der Stimme wahrzunehmen – ein unbewusster Luxus. 450.000 Menschen in Österreich leben mit einer Hörbehinderung, zwischen 8000 und 10.000 sind gehörlos. Für taube Personen ist die Welt, in der sie sich bewegen, still und konfrontiert sie mit zahlreichen Herausforderungen.
Zwar beherrschen in Österreich 20.000 Personen die ÖGS (Österreichische Gebärdensprache), dennoch sei die Gesellschaft noch lange nicht inklusiv, sagt Helene Jarmer, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes, die selbst gehörlos ist. "Obwohl es doppelt so viele Menschen, die ÖGS beherrschen, als es gehörlose Personen in Österreich gibt, sind es immer noch zu wenige. Es mangelt an Dolmetscherinnen und Dolmetschern, aber auch an Lehrenden, die taube Kinder und Kinder gehörloser Eltern in ÖGS unterrichten. Diese wären notwendig, damit eine volle Teilhabe an der Gesellschaft überhaupt möglich ist", erklärt sie.
Online Gebärdensprache lernen
Seit 2018 setzt sich ein österreichisches Unternehmen unterdessen dafür ein, das Lernen von Gebärdensprache auch in den digitalen Raum zu holen. Mit Lingvano hob eine Gruppe Wiener vor fünf Jahren eine App aus der Taufe, die es Nutzenden ermöglicht, auf mobilen Geräten ÖGS, aber auch ASL (American Sign Language) und BSL (British Sign Language) zu erlernen. "Zum damaligen Zeitpunkt gab es keine Möglichkeit, online Gebärdensprache zu erlernen. Das hat uns schockiert", erzählt die Geschäftsführung. "Inzwischen nutzen unsere App weltweit 700.000 Menschen."
Wie bei anderen Sprachlernapps wird in unterschiedlichen Modulen und Lektionen spielerisch die jeweilige Gebärdensprache beigebracht – primär mit Videos. "Bei uns produzieren ausschließlich gehörlose Personen den Content, sie stehen im Unternehmen im Vordergrund." Die Hintergründe der Nutzenden, Gebärdensprache zu erlernen, sind vielfältig. "Es gibt auch immer mehr Menschen, die die Sprache einfach aus Interesse erlernen wollen, das ist schön zu sehen", heißt es seitens Lingvano. Auch für nonverbale Personen kann Gebärdensprache den Alltag nachhaltig verändern. "Wir hatten eine 80-Jährige, die für ihren autistischen Enkel Gebärdensprache lernte, da er nicht sprach."
Gehörlosigkeit ist unsichtbar
Lingvano-Mitarbeiterin Elizabeth Rotter-Sramenko ist gehörlos und lebt täglich mit den Herausforderungen. "Es gibt zahlreiche Kommunikationsbarrieren im täglichen Leben, angefangen bei fehlenden Untertiteln in Kinos und bei jeglichen öffentlichen Durchsagen. Auch in Bildungseinrichtungen und am Arbeitsplatz führt nicht vorhandene Barrierefreiheit zu Diskriminierung", sagt sie, will aber auch positive Erfahrungen hervorheben. "Im Vergleich zu früher haben die Menschen eine viel positivere Einstellung zu Gebärdensprache und versuchen, zu zeigen und zu buchstabieren. Dass die Politik Gebärdensprache als offizielle Sprache anerkennt, hilft ebenfalls, die Gehörlosen-Community in der Gesellschaft mehr zu verankern."
Jarmer sieht unterdessen Bedarf für Verbesserungen: "Unter 'barrierefrei' verstehen Politik, Verwaltung und Gesellschaft oft nur rollstuhlgerecht. Sinnesbehinderungen werden vielfach vergessen, vor allem Gehörlosigkeit: Wir sind leider unsichtbar." Aus diesem Grund sähe Jarmer eine Chance für Inklusion in einer Integration der Gebärdensprache an Schulen. "Für Kinder, deren Muttersprache ÖGS ist, ist das die einzige Chance, dass sie gleiche Bildungsmöglichkeiten haben wie hörende, deutschsprachige Kinder. Und für hörende Kinder könnte die Österreichische Gebärdensprache wie eine andere lebende Fremdsprache angeboten werden. Das wäre eine sehr effektive Methode, die Gesellschaft inklusiver zu machen."
Keine Hemmungen bei der Kommunikation
Noch gibt es keinen ÖGS-Lehrplan, doch seit 2019 wird aktiv daran gearbeitet, informiert der STLVGV (Steirischer Landesverband der Gehörlosenvereine). "Ab 2025 soll er voraussichtlich umgesetzt werden." Doch auch ohne Gebärdensprache können hörende Menschen gehörlosen Personen bei der Kommunikation entgegenkommen. "Es kommt vor, dass wir angeschrien werden, das hilft nicht. Auch das übertriebene Bewegen des Mundes ist eher nicht hilfreich, da sich beim Lippenlesen nur Bruchstücke erfassen lassen", erklärt Jarmer. Mit "Händen und Füßen", aber auch das Handy können bei der Kommunikation helfen. "Blickkontakt herzustellen und keine Hemmungen zu haben, Körpersprache und Gesten einzusetzen, können Gespräche sofort erleichtern", ergänzt der STLVGV. Einfach offen zu sein, sei das wichtigste, so Jarmer.
Wichtig ist gehörlosen Menschen, nicht bemitleidet zu werden. "Wir verwenden nur eine andere, visuelle Sprache", so der Vorstand der STLVGV. Auch für Jarmer ist Gehörlosigkeit kein Defizit: "Ich kann meine Gehörlosigkeit auch positiv sehen, weil sie andere Kompetenzen in mir stärkt."