Mehr als drei Monate ist es her, dass der Terrorprozess um die mutmaßlichen Unterstützer des Attentäters von Wien eröffnet worden ist. Viel Überraschendes hat der Prozess nicht mit sich gebracht, der Erkenntnisgewinn bleibt dürftig. Am Mittwoch geht er mit der Urteilsverkündung zu Ende. Während die einen auf der Anklagebank im Landesgericht für Strafsachen Platz nehmen, setzt sich Andreas Wiesinger in sein Stammbeisl, das "Philosoph".

Hier saß der Luftfahrtexperte auch am Abend des 2. November 2020, als der Terrorist K.F. nur wenige Meter von ihm entfernt das Feuer eröffnete, vier Menschen tötete und Dutzende weitere verletzte. Auch Wiesinger wurde von den Kugeln des Attentäters verletzt. Was der Wiener in der Terrornacht erlebt und wie er gelernt hat, mit den davongetragenen Traumata umzugehen, hat er nun gemeinsam mit Journalistin Bernadette Krassay in dem Buch "Neun Minuten - Die wahre Geschichte des Mannes, der im Kugelhagel des Wiener Terroranschlags überlebte" verarbeitet. 

"Drei Millimeter mehr und ich wäre tot"

Dass Wiesinger die Terrornacht überlebt hat, ist für den 44-Jährigen auch heute noch schwer begreiflich. "Drei Millimeter mehr und ich hätte einen Kopfschuss abbekommen, wäre tot. Drei Millimeter mehr und ich hätte mein linkes Knie verloren, könnte nie mehr gehen."

Dass er am Abend des 2. November 2020 überhaupt unterwegs ist, ist ein Zufall. Eine Freundin fragt spontan, ob sie gemeinsam ein Bier trinken gehen wollen. Weil er ohnehin in der Stadt ist, sagt er zu. Eine ganze Weile sitzen seine Bekannte und er im Schanigarten des "Philosoph", als der 20-jährige Dschihadist K.F. nur wenige Meter weiter das Feuer eröffnet und wild um sich schießt. Minuten später blickt Wiesinger selbst in den Lauf eines Gewehrs, mit dem der herannahende Attentäter in seine Richtung zielt. "Überallhin sprühten Funken aus dem Gewehr. Wie in Zeitlupe flogen mir links und rechts plötzlich Kugeln um die Ohren." 

Im Kugelhagel des Terroristen

Der erste Gedanke des Luftfahrtexperten: Die Kugeln müssen ihn verfehlt haben. Dabei streift eine Kugel seinen Kopf, die andere reißt ihm eine tiefe Fleischwunde ins Knie. Bis ihm das klar wird, dauert es. Im Schock läuft er mit den anderen Gästen ins Lokal, um sich in Sicherheit zu bringen. "Keiner drängelte, keiner schrie - obwohl es um Leben und Tod ging", erinnert Wiesinger sich. Die Gäste werden in den Innenhof der Bar gebracht, gemeinsam kümmert man sich um die Verletzten. Erst da bemerkt er die eigenen Wunden. Im Spital wird er später ambulant behandelt.

Das "Philosoph" im Wiener "Bermudadreieck": Hier vor der Tür sind Andreas Wiesinger und seine Bekannte am 2. November 2020 im Schanigarten gesessen
Das "Philosoph" im Wiener "Bermudadreieck": Hier vor der Tür sind Andreas Wiesinger und seine Bekannte am 2. November 2020 im Schanigarten gesessen © Herrmann

Rückblickend sagt Wiesinger: "Es war ein Abend, der uns passiert ist. Hier im 'Philosoph' hatten wir das unendliche Glück, dass wir keine Todesopfer hatten, sondern mehrere Schwerverletzte - und ich war glücklicherweise nur leicht verletzt." Nicht alle haben so viel Glück wie er. Wie der Wiener später erfährt, trifft eine der Kugeln, die ihn verfehlen, die Kellnerin eines anderen Lokals am Hals. Die junge Frau erliegt ihren Verletzungen - genauso wie ein 21-jähriger und ein 39-jähriger Mann sowie eine 44-jährige Frau.

Neun Minuten

Neun Minuten dauert der Amoklauf, bevor K.F. von der Polizei erschossen wird. Dem Täter gegenüber empfindet Andreas Wiesinger nichts. Für ihn ist klar: "Der Attentäter hat uns neun Minuten unseres Lebens genommen. Viel mehr möchte ich ihm einfach auch nicht geben."

Die Stelle, an der K.F. erschossen wurde, schaut Wiesinger sich kurz nach der Terrornacht an. Zu dem Zeitpunkt sind dort einzelne Kerzen für den Attentäter aufgestellt. Als er das sieht, reagiert er heftig, will sie wegtreten: "Ich habe dann aber realisiert, wenn ich die jetzt ausblase oder sie wegtrete, dann würde ich ihm einen Raum in meinem Herzen geben, den ich nicht bereit bin, ihm zu geben. Ich muss ihn stehen lassen können, mit dem, was er getan hat." 

Mit dem Trauma umgehen zu lernen, nimmt viel Zeit in Anspruch. "Die ersten drei, vier Tage war ich überhaupt nicht einsatzfähig", erinnert Wiesinger sich zurück. Die Woche nach dem Attentat schläft er nahezu durch, die psychische Erschöpfung sei zu groß gewesen. Drei Wochen ist er im Krankenstand, bevor er nach und nach zur Arbeit zurückkehrt. Er beschließt: "Ich möchte auch gedanklich nicht immer in diese Nacht zurückkehren, ich möchte mein Leben weiterleben und weiter gestalten." 

Andreas Wiesinger: "Ich musste über das Danach sprechen"

Für Andreas Wiesinger ist es wichtig, über das Erlebte zu sprechen - und vor allem auch über das "Danach". Die Regierung habe ihn und andere Betroffene damals allein gelassen. Kurz nach dem Attentat habe er zwar einen Brief vom Bundespräsidenten bekommen, der Rest der damaligen Bundesregierung habe aber geschwiegen. "Vom damaligen Kanzler und Innenminister gab es nur öffentliche Schuldzuweisungen in Richtung Justiz, dass der Täter vorzeitig entlassen wurde. Worte der Empathie, des Bedauerns oder Entschuldigungen gab es keine", zeigt sich Wiesinger noch heute enttäuscht. 

Dass der 44-Jährige in den Medien so offen über die Erlebnisse in der Terrornacht spricht, kommt nicht bei allen gut an. Nach Fernsehauftritten liest der Luftfahrtexperte auf Social Media anfangs Kommentare, in denen ihm vorgeworfen wurde, auf Geld aus zu sein, ein Schauspieler zu sein. Dabei sei laut Wiesinger das Gegenteil der Fall. "Wenn man davon überzeugt ist, dass etwas wichtig ist, sollte man das aussprechen", sagt er. "Das war so eine Hartherzigkeit von der damaligen Regierung, das konnte ich nicht einfach so stehen lassen. Ich musste davon erzählen, was uns passiert ist, welche Folgen das hatte und wie man mit uns umgegangen ist, wie man uns damit allein gelassen hat." Deswegen sei ihm das Buch ein wichtiges Anliegen. Für jene Menschen, die in der Terrornacht schwer verletzt und im Stich gelassen wurden, wolle er sich einsetzen, so Wiesinger.

Andreas Wiesinger im Gespräch mit Journalistin Bernadette Krassay (Die Presse)
Andreas Wiesinger im Gespräch mit Journalistin Bernadette Krassay (Die Presse) © (c) Lukas Beck

Journalistin Bernadette Krassay, die mit Andreas Wiesinger für das Buch eng zusammengearbeitet hat, fügt hinzu: "Wir wollen den Betroffenen eine Stimme zu geben, vor allem in Hinblick auf das politische Versagen. Und wir wollten all jenen Menschen eine Stimme geben, die ihre in dieser Nacht verloren haben." Die gemeinsame Arbeit sei für Wiesinger auch eine Art Verarbeitungsprozess gewesen. "Das habe ich persönlich sehr spannend gefunden, das begleiten zu dürfen", so die Presse-Redakteurin, die den 44-Jährigen ursprünglich im Rahmen einer Reportage kennengelernt hat. "Aus der gemeinsamen Arbeit ist dann eine Art Freundschaft entstanden."

Andreas Wiesinger "Ich lass mir mein Wien nicht wegnehmen"

Heute sitzt Andreas Wiesinger wieder in seinem Stammbeisl, dem "Philosoph". Dem Lokal hat er im Grunde nie wirklich den Rücken gekehrt. Bereits in der Nacht des Attentats hat er zu seiner Mutter gesagt: "Ich will zurück ins Lokal. Ich lass mir mein Wien nicht wegnehmen."

Andreas Wiesinger im "Philosoph", einem seiner Stamm-Beisl
Andreas Wiesinger im "Philosoph", einem seiner Stamm-Beisl © Herrmann