„Es ist halt passiert“, sagt der Bürgermeister. Hermann Huber meidet die großen Worte, wenn die Rede auf „es“ kommt. Auch er, dessen Familie damals keine Opfer zu beklagen hatte, erinnert sich nicht gerne an den 23. Februar 1999. Um wie viel weniger jene, die Angehörige verloren haben oder selbst verschüttet waren. Freundlich, aber bestimmt weisen sie Fragen nach ihren Erinnerungen zurück. „Ich hab‘ meinen inneren Frieden gefunden“, sagt Andreas Lorenz, der die Pension „Belvedere“ führt. Verwandte starben unter den Schneemassen, darüber reden will er nicht. Nur so viel noch: „Wir rechnen in einer Zeit vor der Katastrophe und einer Zeit danach.“

Video: Lokalaugenschein in Galtür

Auch Lukas Mattle, der die Tischlerei der Familie mit seinem Bruder Siegbert in dritter Generation führt, winkt sofort ab, wenn man ihn auf die Lawine anspricht. Über die Rettung seiner Schwester aus dem halb verwüsteten Gebäude will er nicht mehr reden. Helmut Pöll, der durch das „Alpinarium“ gegenüber der Tischlerei führt, kann das gut verstehen. „Die Generation, die jetzt übernommen hat, sagt: wir schauen in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit. Wir wollen eine Ruh haben.“

Alpinarium: Museum und Gedenkstätte

Das Alpinarium gibt es nur, weil an dieser Stelle vor 25 Jahren die Schneemassen über die Straße gedonnert sind. Das Museum, das die Lebensart im Paznauntal dokumentiert, lehnt sich an einen der drei massiven Wälle, die auch riesigen Lawinen in Zukunft abblocken sollen. Vom Dach des Museums aus lässt sich der große Abstand vom Berghang ermessen, der den Galtürern damals das falsche Gefühl von Sicherheit gab. 

Ein Vierteljahrhundert ist es her, dass nach tagelangen Schneestürmen die weißen Massen zu Tal gerast sind. 330.000 Tonnen, erfahren Museumsbesucher im Film, der im Alpinarium in Endlosschleife läuft. Computersimulationen versuchten, auch die Spitzengeschwindigkeit der Lawine zu errechnen: 250 Stundenkilometer. Die Wucht der Schneemassen machte alle Vorberechnungen zu Makulatur, auch die in Jahrhunderten gewachsene Bergerfahrung der Menschen erwies sich als trügerisch. Galtür ist sicher, hatte die Gemeinde geglaubt, die Zufahrtsstraßen gesperrt, Gäste und Einheimische instruiert, aber keine Evakuierungen am Ortsrand angeordnet. Sieben Häuser fegte die Lawine weg.

„Man geht davon aus, dass es ein drei- bis vierhundertjähriges Ereignis war“, erzählt der Bürgermeister, der schon damals für die Gemeinde gearbeitet hat, was man heute weiß. Mit Unbehagen erinnert sich Huber an die scharfe Kritik, die es nach dem Unglück gehagelt hat. „Wir haben in den ersten Jahren viel mitgemacht mit dem Pressedruck“. Anwälte wollten den Bürgermeister, den Landeshauptmann, den Bezirkshauptmann und andere Verantwortungsträger vor Gericht bringen. Zu Prozessen ist es nie gekommen. „Wir haben damals das Menschenmögliche gemacht“, sagt Huber. 

Die Einwohner von Galtür und ihre Beziehung zum Tod

Im Eck des Kirchhofs von Galtür erinnert ein schlichtes Kreuz und ein tröstlicher Spruch an die 25 Wintergäste, die den Schneemassen zum Opfer fielen: „Es gibt keine Toten, es gibt nur Lebende auf unserer Erde und im Jenseits“. Gleich daneben haben die Galtürer für ihre sechs verschütteten Landsleute ein ähnliches Kreuz errichtet mit der Aufschrift: „Gott hat uns beim Lawinenunglück am 23. Februar 1999 gerufen“. Kein Vorwurf, keine Klage.

Nirgendwo sonst, erzählt Pfarrer Bernhard Speringer, seien ihm Menschen begegnet, die so eine natürliche Beziehung zum Tod haben. Unterm Kruzifix in der Seitenkapelle liegen bemalte Totenköpfe, Namen und Lebensdaten stehen in verschnörkelter Schrift auf den Schädeln. Wenn der Tod einen Galtürer holt, sind alle da, erzählt der Pfarrer. Ehrensache sei das für die Menschen hier, wie auch die regelmäßigen Gedenkmessen, die Hinterbliebene auch noch Jahrzehnte nach dem Tod ihrer Angehörigen bei seiner Sekretärin bestellen. 

Stilles Gedenken – zum Schutz der Trauergäste

Heute wird die Kirche wieder voll sein. Die Familien der verschütteten Feriengäste aus Deutschland, Dänemark und Holland hat man diesmal nicht eigens eingeladen. Den zwanzigsten Jahrestag beging Galtür 2019 noch mit einem politisch-kirchlichen Großaufmarsch. Fünf Jahre danach soll die Feier schlicht sein, auch zum Schutz der Trauergäste, die ein stilles Gedenken bevorzugten, glaubt der Pfarrer. Helmut Pöll, der Amtsleiter des Orts und Projektleiter des Alpinariums, erinnert sich an die Reaktion des Gemeinderats auf die eingelangten Anregungen zur Gestaltung des 25. Jahrestag. „Der Tenor war, eigentlich wollen wir nichts, weil mit jeder Veranstaltung wieder nur die Lawine transportiert wird.“  

Der Landeshauptmann wird auch diesmal kommen. Anton Mattle, den sie hier den Toni nennen, lebt in Galtür. Fast 30 Jahre lang war er Bürgermeister des Orts, bis er 2021 zum Wirtschaftslandesrat und ein Jahr später zum Landeshauptmann aufstieg. Immer wieder erzählt er stockend vor Kameras vom Unfassbaren, vom donnernden Getöse der Lawine, von der quälenden Suche nach Überlebenden und vom Leid der Angehörigen der Opfer. Bis heute hält er Kontakt mit Hinterbliebenen, die das wollen. Eine Holländerin, die Mann und Kinder in Galtür verlor, hat ihm den tröstlichen Satz geschrieben: „Wir leben wieder.“