Herr Busch, immer mehr Menschen fühlen sich erschöpft vor lauter Informationen, die jeden Tag auf uns einprasseln. Warum ist das so?

VOLKER BUSCH: Weil unser Gehirn für diese riesige Menge an Informationen gar nicht gemacht ist. Wir sind keine Festplatte, die ewig viele Daten speichern kann, wir verarbeiten die Informationen ja auch. Wir denken zum Beispiel darüber nach, reflektieren, sie erinnern uns an etwas und so weiter. Dadurch entsteht ein ständiger Gedanke, zu planen, zu optimieren, sich zu strukturieren. Das erzeugt Druck, der uns davon abhält, im wahrsten Sinne des Wortes abzuschalten.

Wir hätten ja grundsätzlich die Wahl, uns nicht ständig durch Social-Media-Apps und Co. zu scrollen. Warum stoppen wir das nicht einfach? 

Wir sind biologisch darauf programmiert, uns Informationen zuzuwenden. Sie haben ja grundsätzlich Vorteile für uns. Bei unseren Vorfahren konnten Informationen über das Überleben entscheiden, weil sie zum Beispiel gewarnt haben, wo gefährliche Bären in Höhlen leben. In einer reizarmen Welt war das noch verhältnismäßig okay, weil einfach weniger auf uns einprasselte ...

Und heute?

In dieser reizreichen Welt heute verkehrt sich das natürlich schnell ins Nachteilige. Unser Gehirn ist gar nicht dafür gemacht, das hat die Kapazitäten nicht – denn wir haben ja jetzt immer noch das gleiche Gehirn unserer Steinzeitvorfahren, da hat sich ja nicht viel verändert.

Viele Menschen klagen über mangelnde Konzentration. Ist die Digitalisierung schuld, dass wir uns nicht mehr konzentrieren können?

Ja, es mag sein, dass man das Konzentrieren im Alltag weniger trainiert. Aber ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass wir uns als Spezies nicht mehr konzentrieren können. 

Was also ist das Problem?

Konzentration klappt immer nur dann, wenn die Ablenkungen nicht zu groß sind. In einer Welt, in der wir so unglaublich viel Störfeuer geschaffen haben, fällt es auch den Diszipliniertesten schwerer, sich zu konzentrieren – aber nicht, weil man die Fähigkeit nicht prinzipiell mitbringen würde, sondern weil die Störungsdichte zu groß ist. Zusammengefasst: Unser Problem heute ist nicht eine allgemein nachlassende Konzentrationsfähigkeit, sondern die permanente Störung.

In Ihrem Buch "Kopf frei" widmen Sie sich genau diesen Themen. Wie kann man bei den permanenten Störungen denn gegensteuern?

Es gibt Möglichkeiten, eine Störungskontrolle zu organisieren. Das ist der entscheidende Punkt heute: Wir müssen Verantwortung dafür übernehmen, dass unser Gehirn eine gewisse Infrastruktur bekommt, in der es sich bestmöglich entfalten kann. Diese Störungskontrolle zu organisieren, ist das vordringlichste Ziel.

Organisation ist also das A und O, wenn wir uns wieder konzentrieren wollen?

Wir denken immer, wir erreichen unsere Ziele nur mit Kraft, nach dem Motto 'Ich strenge mich jetzt noch mehr an, mich zu konzentrieren'. Man muss nicht mit Kraft rangehen, sondern mit Köpfchen. Wenn man erfolgreiche Frauen und Männer anschaut, dann hatten die alle interessante Tricks, wie sie sich aus diesem ganzen Chaos herausgezogen haben, und genau deshalb waren sie erfolgreich.

Zum Beispiel?

Wenn sich der Literatur-Nobelpreisträger William Faulkner konzentrieren wollte, hat er in seinem Büro von der anderen Seite den Türknauf abgeschraubt, dann kam niemand mehr rein. Darüber darf man natürlich schmunzeln, aber was ich damit sagen will: Die waren gar nicht immer so viel disziplinierter als andere, sie waren schlicht und einfach clever genug, sich für eine gewisse Zeit am Tag von der Welt zu entkoppeln. Dazu sind wir heute nicht bereit, wir wollen unser Handy nicht mehr weglegen – und das ist die große Schwierigkeit. 

Im Buch empfehlen Sie unter anderem, "tiefe Stunden" zu nehmen. Was meinen Sie damit?

Die "tiefe Stunde" bietet einen Rahmen – 60 Minuten zirka –, in dem man sich der wichtigsten Sache des Tages zuwendet und Störungen auf ein Minimum reduziert. Indem man sich diese störungsfreie Zeit schafft, sich diese Fokuszeit organisiert, kann man sich leichter konzentrieren.  

Haben Sie auch ein paar "Erste Hilfe"-Tipps, wenn man in einer Situation wiederfindet, in der die Reizüberflutung überhandnimmt?

Mir selbst hilft zum Beispiel eine Auswahlübung, die ich jeden Morgen mache. Ich schaue aus dem Fenster und stelle mir zwei Fragen. 1) Was wird heute richtig wirklich? Was verdient meine volle Konzentration? Sich die wichtigsten zwei, drei Punkte klarzumachen, hilft, sich nicht zu verzetteln. Und die zweite Frage, die sich daran anschließt: Worauf werde ich heute ganz bewusst verzichten? Ich bin nach über 20 Jahren Arbeit in dem Bereich überzeugt: Wir müssen Dinge loslassen. Daraus entstehen ganz wundervolle neue Freiheitsgrade durch das Loslassen. Oft reicht schon eine Sache, um zehn Prozent mehr Autonomie zu gewinnen im Tagesablauf.

Volker Busch ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Aktuell arbeitet er an seinem zweiten Buch
Volker Busch ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Aktuell arbeitet er an seinem zweiten Buch © Oliver Reetz

Was kann man noch tun, um im Alltag konzentriert zu bleiben?

Nichts lädt unsere Konzentrationsakkus so sehr auf wie geruhsamer Nachtschlaf. Wichtig ist auch, dass man regelmäßige Pausen macht. Konzentration kommt ja nicht, um lange zu bleiben. Wie oft machen die Leute keine Pausen, weil die To-do-Liste noch so lang ist. Dabei merkt man gar nicht, wie man mit zunehmender Stunde immer langsamer wird, immer mehr Fehler macht. In Wahrheit wäre man viel schneller, wenn man kurz eine Runde um den Block geht und sich dann wieder hinsetzt. 

Nicht vergessen darf man die Ernährung. Unsere Konzentration geht uns bei Zuckermangel ganz schnell verloren. Deswegen ist eine Ernährung gut, die den Zuckerspiegel konstant hält, zum Beispiel Vollkornprodukte morgens. Und viel Wasser trinken. Flüssigkeit ist für das Gehirn das wichtigste Stoffwechselprodukt.

Wie schaut das bei Ihnen persönlich aus: Sind Sie als Neurologe und Psychiater auch mal selbst betroffen?

Ich musste lernen, mich zu entscheiden, auf Dinge zu verzichten. Wie Woody Allen es so schön formuliert hat: "Du kannst nicht zwei Pferde mit einem Hintern reiten." Auch wenn dieser Verzicht schwerfällt, weiß ich als Psychiater eben auch, dass man hin und wieder von seinem narzisstischen Ross runtersteigen muss (lacht). Man ist eben nicht der wichtigste Mensch der Welt. Es gibt andere Dinge, die sind wichtiger. 

Wäre die Welt in einem besseren Zustand, wenn wir uns alle wieder mehr auf das Wesentliche konzentrieren würden?

Ja, davon bin ich überzeugt. Ich würde den Gedanken sogar noch weiter fortführen: Die Welt wäre auch dann eine bessere, wenn wir die Probleme mit mehr anhaltender Konzentration und Aufmerksamkeit bearbeiten würden. Die großen Herausforderungen wie die Klimaproblematik zum Beispiel können wir nur mit einer gewissen Ausdauer lösen. Deswegen bin ich überzeugt, dass uns Konzentration im gesamtgesellschaftlichen Kontext helfen würde.