Es sind Szenen, die wir einfach nicht mehr gewohnt sind. Menschen, dicht beieinander in vollen Fußballstadien, Schlachtrufe grölend. Oder Feiernde in endlich wieder geöffneten Klubs. Die Durststrecke war lange und hart. Doch bei genauerer Betrachtung der lebensbejahenden Bilder stellt sich die Frage: Ist es riskant, so rasch zum gewohnten Leben zurückzukehren? Vor allem vor dem Hintergrund der sich ausbreitenden Delta-Variante von Sars-CoV-2.

„Ja, wir können uns einiges erlauben“, sagt Bernhard Lamprecht, Vorstand der Klinik für Lungenheilkunde am Kepler Universitätsklinikum. Der Grund für die wiedergewonnen Freiheiten ist das „sehr, sehr niedrige“ Infektionsgeschehen. Ein Blick auf die aktuellen Zahlen zeigt: Die Siebentage-Inzidenz liegt mit 5,5 stabil unter dem Wert von zehn, jene der Neuinfektionen mit 80 stabil unter 100. Auch die Spitäler sind aktuell entlastet, mit 46 müssen nicht einmal 50 Patientinnen und Patienten auf Intensivstationen versorgt werden. „Gemeinsam mit dem Impffortschritt sorgen die warmen Temperaturen des Sommers dafür, dass sich viele Menschen im Freien treffen und auch die höhere Luftfeuchtigkeit dafür, dass sich das Virus nicht so schnell verbreiten kann.“

Das größte Risiko: Das Gefühl, es sei vorbei

Die Delta-Variante hat in Österreich noch nicht das Infektionsgeschehen übernommen, im August dürfte dies aber der Fall sein, prognostiziert Lamprecht. Die letzten verfügbaren Daten sind aus Kalenderwoche 25 und diese besagen, dass von 723 Neuinfektionen 198 der Deltavariante zuzuordnen sind.

Über den Sommer sieht Lamprecht aber nicht Delta als das größte Risiko an. Mehr Sorgen bereitet dem Lungenspezialisten, dass „ein relevanter Teil der Bevölkerung denken könnte, die Sache ist jetzt erledigt“. Und genau aus diesem Grund auf eine Impfung verzichtet, weil er es als nicht mehr notwendig empfindet. „Das wäre eine trügerische Annahme.“

Es gibt Mittel und Wege zu verhindern, dass Delta zur sommerlichen Spaßbremse wird. Ja, diese Variante des Coronavirus ist ansteckender als andere, etwa die Alphavariante. Aber die Impfung schützt auch hier, vorausgesetzt, es werden beide Impfdosen in Anspruch genommen. Das mRNA-Vakzin von Biontech/Pfizer schützt zu 88 Prozent vor einer symptomatischen Erkrankung, der Vektor-Impfstoff von AstraZeneca zu 60 Prozent. Der Schutz vor einem schweren Verlauf bzw. einer Hospitalisierung liegt bei beiden Vakzinen nach der zweiten Dosis bei über 90 Prozent. „Vollimmunisiert Personen spielen auch als Überträger eine untergeordnete Rolle“, sagt Lamprecht.

Der Test, eine Krücke

„Wenn wir möchten, dass die Situation so bleibt, wie sie jetzt ist, dann brauchen wir mehr Impfungen über den Sommer.“ Auch einen Anstieg der Siebentage-Inzidenz könne man sich in Österreich leisten, solange nicht auch die Zahl der Hospitalisierungen gleichermaßen steigen würde. Dieses Bild zeigt sich etwa in Großbritannien: Die Inzidenz steigt, das Niveau der Spitalsaufenthalte bleibt dennoch niedrig.

Egal ob im wohl gefüllten Stadion oder in den Innenräumen eines Klubs – man sollte sich der Gefahr einer Infektion bewusst sein. Wobei Österreich in Sachen Zutrittsregeln strenger ist als andere Länder, welche die 3G-Regel nicht kennen. Aus diesem Grund wäre Lamprecht wohler, wenn aus Geimpft, Genesen, Getestet in bestimmten Bereichen wie etwa der Nachtgastronomie bzw. bei Großveranstaltungen eine 2G-Regel – also Genesen und Geimpft – werden würde. „Das Testen ist eine Krücke, die Spanne zwischen PCR-Test und Wohnzimmertests sehr groß“, erklärt Lamprecht. Denn das Testergebnis ist das eine, ob und wie es überprüft wird, das andere.

Mit Fortdauer der Pandemie kommt in dieser Hinsicht auch die Eigenverantwortung ins Spiel. „Impfangebote sind niederschwellig verfügbar, diese sollte man nutzen“, so Lamprecht. Und im Hinblick auf die Entwicklung der Delta-Variante meint er: „Ein bisschen Vorsicht ist aktuell noch ganz gut.“