Frau Dr. Leibovici, Kindererziehung ist immer auch ein politischer Akt. Man legt den Grundstein für die künftige Gesellschaft. Woran bauen wir da gerade im Umgang mit den Kindern?
MARTINA LEIBOVICI-MÜHLBERGER: Die Kinder leben in einer Krisengesellschaft. Wir haben seit zwei Jahren Pandemiebedingungen und jetzt auch noch einen Krieg vor der Haustür. Preissteigerungen und die Inflationsraten haben beängstigende Ausmaße. Das bedeutet, dass die Kinder in einer Stresslandschaft aufwachsen. Sie spüren die Sorgen der Eltern. In der Forschung zur Pandemie hat sich gezeigt, dass viele Kinder in einem fast Burnout-ähnlichen Zustand sind. Ein großer Teil hat Sorge vor der Zukunft oder glaubt gar nicht mehr an eine eigene Zukunft. Das heißt, wir als politisch Verantwortliche müssen schleunigst etwas für diese Kinder und Jugendlichen tun.

Aber was?
Ich glaube, dass ein tiefer Reflexionsprozess bis an die Grundfesten unserer Zivilisation angezeigt ist. Denn die nächste Generation muss nicht mehr nur nationale und lokale, sondern globale Probleme lösen. Dafür braucht man ein Betriebssystem, das stressresistent, flexibel, lösungsorientiert, hoch kooperativ und kreativ macht. Also ein Mindset, das die beiden wesentlichen Grundkompetenzen für den Erfolg unserer Spezies fördert. Unser radikales Sozialsein und unsere Kreativität, unsere Fähigkeit, vorausschauend zu denken – das gehört gefördert, auch über das Bildungssystem.

Martina Leibovici-Mühlberger: "Es gibt auch weitaus mütterlichere Väter, als manche Frauen mütterlich zu sein verstehen. Das muss man auch sehen."
Martina Leibovici-Mühlberger: "Es gibt auch weitaus mütterlichere Väter, als manche Frauen mütterlich zu sein verstehen. Das muss man auch sehen." © ORF

Haben die Väter in dieser komplexen, langfristigen Form der Krisenbewältigung eine spezifische Rolle?
Wir versuchen heute, Geschlechterrollen aufzulösen. Mehr und mehr setzt sich die Idee durch, dass das Geschlecht eine soziale Konstruktion ist und ich mir daher selber konstruieren kann, ob ich Frau oder Mann sein will. Das kann man heftig und kontroversiell diskutieren, das gebe ich zu. Aber am Ende bleibt, dass wir Geschlechterrollen haben und damit gewisse Haltungen, Umgangsformen, Ausdrucksweisen, Aufgaben assoziieren. Bis vor wenigen Jahrzehnten war mit der Rolle des Vaters der Schutz der Familie nach außen verbunden, die erhaltende Funktion, der Ernährungsvater.

Die alte patriarchale Rolle.
Die hatte auch schwere Belastungen für Männer parat. Man sagt immer, sie sind die Mächtigen. Das stimmt, aber sie haben auch den Stress. Der Patriarch, der seine Aufgabe des Schutzes und der Verantwortung für das ganze soziale System, das ihm „beigeordnet“ ist, ernst nimmt, der robotet ordentlich und hat schlaflose Nächte.

Und es wird ihm weniger Emotionalität zugestanden, oder?
Er fühlt sich verantwortlich und darf nicht einknicken. Das hat also seine Pferdefüße. Aber die Idee der Rollenveränderung haben natürlich die Frauen vorangetrieben. Und im Zuge dessen ist auch die Identitätsreflexion des Mannes gelaufen. Sozusagen als Nebenprodukt der weiblichen Emanzipation. Und wir haben daraus resultierend ein neues Bild von männlicher Identität und Väterlichkeit, das bei zunehmend vielen Männern um sich gegriffen hat. Darum gehe ich davon aus, dass der überwiegende Teil von ihnen ein Beziehungsinteresse an seinem Kind hat. Dieses gelebte Interesse ist für die Entwicklung des Kindes genauso wichtig wie das, was die Mütter anbieten. Es ist nicht gleichartig, aber gleichwertig.

Neben dem engagierten, beziehungsorientierten Vater gibt es doch aber auch immer mehr abwesende Väter? Nach komplexen Trennungen etwa.
Manchmal wird im Streitfall gerade beim jungen Kind die Perspektive suggeriert: Der Vater taugt nichts oder kann das nicht, weil Kleinkindbetreuung Frauensache ist. Mütterlichkeit ist aber keine an das genetische Geschlecht gebundene Kompetenz, sondern ein Bündel von pflegenden, nährenden, versorgenden, empathischen Kompetenzen. Da gibt es weitaus mütterlichere Väter, als manche Frauen mütterlich zu sein verstehen. Das muss man auch sehen.

Sagen Sie damit, schmerzhafte Trennungen tragen dazu bei, dass sich ein eher traditionelles Vaterbild hält?
Das hängt immer von den Akteuren und ihrem Mindset ab. Ich kenne eine Reihe von Richtern, die ehrlich bemüht sind, in hoch streitigen Verfahren eine dem Kindeswohl entsprechende Klärung durchzuführen. Aber ich sehe auch immer wieder die alte Argumentationsform: Ein kleines Kind gehört zur Mutter, Punkt. Ich kann nur allen Beteiligten, also Richter, Mutter und Vater sagen: Wenn es uns darum geht, dass die nächste Generation eine starke wird, muss man bei Trennungen den Blickwinkel des Kindes respektieren. Das ist das Allerwichtigste. War der Vater nur Erhalter? Oder war er ein realer Beziehungspartner, der – das ist der wesentliche Punkt – in die Alltagsabläufe des Kindes einbezogen war? Wenn das so ist, muss man alle Kräfte daransetzen, dass dieses Kind durch die Trennung seiner Eltern nicht einen Elternteil – und im überwiegenden Ausmaß ist es dann der Vater – verliert. Sondern, dass man eine Lösung findet, mit der das Kind den Vater genauso haben kann. Das wäre auch mein Appell zum Vatertag: Lasst jene Männer, die während der Beziehung mit den Müttern Beziehungsväter waren, das weiterhin für ihre Kinder sein.

Ist das eine Aufforderung an die Mütter, emotionale Verletzungen anders zu handhaben?
Es ist einerseits eine Aufforderung an die Justiz und ein Lob für jene Richter, die die Mühe auf sich nehmen, in diesen Fällen nach dem Kindeswohl zu fahnden. Und es ist eine Aufforderung an alle, denen es schwerfällt, die persönlichen Kränkungen, die mit einer Trennung einhergehen, von der ihrem Kind geschuldeten Verantwortung zu trennen. Ein Vater kann auf der Beziehungsebene ein furchtbarer Hallodri sein und mich als Partnerin schrecklich behandeln. Er kann trotzdem der beste Papa sein, der zuverlässigste Geschichtenerzähler, der liebevollste Kumpel für das Kind.

Und wenn die Kinder älter werden? Wie lösen die sich heute von ihren Eltern?
Na ja, die Eltern, die jetzt in ihren 30ern, 40ern sind, hatten selbst noch Eltern, die unter dem Primat materieller Denkfiguren aufgewachsen sind: Man musste sich was schaffen und was werden. Die Kinder, die heute erwachsen werden, müssen sich damit auseinandersetzen, dass sie materiell wahrscheinlich nichts aufbauen können. Das heißt, sie müssen von ihren Eltern in eine neue Definition von Lebensleistung begleitet werden. Da könnte es in die Richtung gehen: Was ist Erfolg im Leben? Wir hinterlassen ja ein bedenkliches Erbe, wenn man sich den Globus anschaut. Hier muss eine Neudefinition im Dialog zwischen Eltern- und Zukunftsgeneration erfolgen: Was ist ein gutes Leben, was heißt erfolgreich?

Diese Neudefinition passiert ja bereits. Die Kinder, die jetzt erwachsen werden, schreiten die aktuellen Konfliktzonen mit ihren und manchmal gegen ihre Eltern ja schon ab, in Sachen Klimaaktivismus etwa.
Ja, da ist ein Transformationsprozess im Gange. Und ich hoffe, dass diese kommende Generation eine friedliche, kooperative, kreative Gesellschaft entwirft, in der alle unsere hochtechnologischen Kompetenzen und Erfindungen einem möglichst großen Teil der Menschheit zugute kommen. Weil letztlich nur der gemeinschaftliche Ansatz bei einer Bevölkerung, die gegen die 10 Milliarden gehen wird, auch durchgreifenden sozialen Frieden herstellen kann.

Gibt es Hoffnung, dass die Generation dieser Kinder ein bisschen weniger streng auf ihre Väter, ihre Eltern zurückblicken wird als die vorhergehenden?
Der kollektive Blick der Kindergeneration, die jetzt heranwächst, auf ihre Vätergeneration wird stark davon abhängen, was diese Väter jetzt gesellschaftspolitisch weiterbringen. Also davon, ob diese Männer sich verantwortungsbewusst für die Zukunft und den Globus als Lebensraum entscheiden und ob sie dazu Handlungen setzen oder nicht.

Die müssen individuell und global noch ganz schön viel zusammenbringen, die jungen Väter von heute.
Ja, das müssen sie. Die jungen Väter und auch die jungen Mütter. Das betrifft alle Generationen, die jetzt noch die Zügel in Händen halten: Wir werden Rechenschaft geben müssen. Das kann man sich als Vater oder Mutter wirklich selbst ins Stammbuch schreiben: Ich werde mich irgendwann vor diesem kleinen Pipifatz an meiner Hand dafür verantworten müssen, wie ich diesen Globus mitverwaltet habe.