Im einen Moment ist noch alles gut, im anderen Moment bemerkt man plötzlich ein heftiges Ziehen im Mund. Mit der Zunge versucht man rasch, die Zähne abzutasten – aber die sitzen plötzlich verdächtig locker. Der Puls ist plötzlich auf 180 und während man panisch zum Spiegel stürzt, spürt man bereits, dass sich gerade ein Zahn nach dem anderen verabschiedet ...
Warum träumen wir eigentlich?
"Puh, Glück gehabt: Das war alles nur ein Traum." Unter wiederkehrenden Albträumen wie jenem mit den ausgefallenen Zähnen leiden viele Menschen. Bei anderen ist es das Gefühl, verfolgt zu werden, aber nicht weglaufen oder um Hilfe schreien zu können.
Aber warum träumen wir eigentlich? Das weiß Brigitte Holzinger. Sie ist Traumforscherin, Psychologin und Psychotherapeutin und leitet das Institut für Bewusstseins- und Traumforschung in Wien. Sie sagt: "Der Traum ist fast so etwas wie eine kleine Psychotherapie, die wir allnächtlich durchführen, um uns mit bestimmten Dingen zurechtzufinden, zu lernen und uns zu entwickeln."
Die nächtliche (Alb-)Traumfabrik
Dabei werden wir nicht nur von schönen, sondern auch von Albträumen heimgesucht. Was hat es damit auf sich? "Es gibt da diese These, dass der Albtraum der Traum ist, der wegen heftiger Gefühle nicht zu Ende geträumt werden kann", erklärt Holzinger, die an der Medizinischen Universität Wien den Lehrgang "Schlafcoaching" verantwortet. "Der Trauminhalt war emotional so aufwühlend, dass es den Träumer fast ein bisschen überfordert und aufweckt. Das Emotionale ist aber sehr wichtig, um sich zu entwickeln."
Generell wird zwischen verschiedenen Schlafphasen unterschieden. Der REM-Schlaf, erklärt Brigitte Holzinger, ist beispielsweise ein spezifisches Schlafstadium, in dem schnelle Augenbewegungen stattfinden, das Gehirn fast wie im Wachzustand sehr aktiv, die Muskulatur aber wie gelähmt ist. In diesem Stadium könne mit hoher Sicherheit gesagt werden, dass man träumt. "Aber wir können bis heute nicht ausschließen, dass wir nicht auch in anderen Schlafstadien träumen oder zumindest so etwas wie schlafähnliche Vorgänge haben." Doch warum erinnern wir uns im Nachhinein an Albträume, an schöne Träume tendenziell aber weniger?
Warum wir uns besser an Albträume erinnern können
Brigitte Holzinger, die auch Psychotherapeutin für Integrative Gestalttherapie ist, sagt: "Wir gehen davon aus, dass eine Gestalt sich schließen möchte." Sie vermutet, dass ein Traum, der zu Ende geträumt werden kann, einer geschlossenen Gestalt gleichkommt – beim Albtraum könne davon nicht die Rede sein, hier habe sich die Gestalt sozusagen nicht abrunden können.
"Näher neurophysiologisch orientierte Kollegen könnten auch sagen, da waren die Emotionen so heftig, dass man davon aufgewacht ist und erinnert man sich deswegen daran, was man da gerade gealbträumt hat", so Holzinger.
Wenn im Traum die Zähne ausfallen: Was bedeutet das?
Was wir träumen, ist individuell unterschiedlich. Und dennoch gibt es Szenarien, die vielen Menschen im Schlaf widerfahren. Ein Beispiel: Im Traum beginnt ein Zahn nach dem anderen auszufallen. Oder man wird verfolgt. Statt schleunigst die Beine in die Hand zu nehmen, sind die aber plötzlich schwer wie Blei und man kann sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Aber was bedeuten solche Träume?
Eine Frage, die die Expertin öfter hört, auf die sich aber keine allgemeingültige Antwort geben lässt: "Obwohl es Träume gibt, die bei vielen Menschen vorkommen, sind sie doch individuell. Wenn ich da rein interpretiere und sage, das ist ein Selbstwertproblem, dann ist das fast ein Übergriff und vor allem nicht richtig." Letztlich wisse der Träumer oder die Träumerin nur selbst, womit der Traum sich befasse.
Wer sich für seine Träume interessiert, dem empfiehlt Brigitte Holzinger individuell nachzuspüren: "Die Träume wollen nachempfunden werden. Wir gehen davon aus, dass sie viel mit dem zu tun haben, was wir tagsüber erleben, wer wir tagsüber sind."
Wann man bei regelmäßigen Albträumen professionelle Hilfe aufsuchen sollte
Häufen sich die Albträume, hat das natürlich Auswirkungen auf die individuelle Lebensqualität. "Eine Albtraumstörung ist als Schlafstörung gelistet", erklärt Holzinger, die in Wien und Stanford (Kalifornien) Psychologie studiert hat. Von einer solchen Störung wird ausgegangen, wenn jemand über einen Zeitraum von mehreren Monaten mehrmals pro Woche Albträume erlebt und dadurch ein großer Leidensdruck entsteht.
Konkret: "Wenn jemand zum Beispiel zwei bis drei Mal in der Woche den Schlaf vermeidet, weil man sich fürchtet, wieder einen Albtraum erleben zu müssen und dadurch zu viel weniger Schlaf kommt, dann wäre es wichtig, sich Hilfe zu suchen."
Albtraumbewältigung durch luzides Träumen?
Eine Technik zur Bewältigung von Albträumen kann das luzide Träumen sein. "Luzides Träumen – man nennt das auch Klarträumen – ist bewusstes Träumen", erklärt Holzinger, die zu dem Thema auch Seminare anbietet. Im Grunde geht es dabei darum, sich innerhalb des Träumens bewusst zu werden, dass man träumt. "Man kann sich das so vorstellen, dass man in den Traum hinein aufwacht. Und weil man erkennt, dass man träumt, kann man dann auch Entscheidungen treffen." Man habe dann also plötzlich die Wahl, sich aufzuwecken oder auch innerhalb des Traums anders zu handeln.
Die Traumforscherin führt ein Beispiel an: "Man träumt, vor dem Abgrund zu stehen und jeden Moment zu fallen. Wenn man jetzt aber erkennt, dass man träumt, hat man die Wahl, im Traum anders zu handeln." Da es sich ohnehin um ein erträumtes Szenario handelt, könne man sich im Traum – statt in den Abgrund zu stürzen – auch entscheiden, zum Beispiel einfach wegzufliegen und den Albtraum damit in einen schönen Traum zu verwandeln. "Damit meine ich, dass dieses heftige Gefühl von Angst und Ausgeliefertsein in ein Glücksgefühl umgewandelt wird", so die Expertin. "Weil man dann erkennt: Ich bin nicht ausgeliefert. Ich habe die Wahl. Ich kann mich selbst retten."
Claire Herrmann