Die Diskussion rund um die Covid-Schutzimpfung für Kinder und Jugendliche wird in Österreich und Deutschland sehr unterschiedlich geführt. In Österreich wird die Impfung für über Zwölfjährige mit dem Vakzin von Biontech/Pfizer allgemein empfohlen, in Deutschland empfiehlt die Stiko diese für eine eingeschränkte Gruppe. Wie empfinden Sie die Diskussion und wieso glauben Sie, dass diese so unterschiedlich geführt wird?
ALENA BUYX: Die Diskussion in Österreich habe ich nicht im Detail verfolgt, ich kenne aber das Ergebnis. Ich halte die Empfehlung des österreichischen Gremiums in der jetzigen Lage für eine gute. Denn Sars-CoV-2, und hier besonders die Delta-Variante, wird sich dort ausbreiten, wo Menschen ungeschützt sind. Ich persönlich würde auch bei Jugendlichen das berechenbare Risiko der Impfung dem unberechenbaren Risiko der Infektion vorziehen. Es gibt inzwischen viel Erfahrung mit diesem Impfstoff, mehrere Millionen Geimpfte zwischen 12 und 15 Jahren. Bislang ist kein Signal aufgetreten, dass die Risikoabwägung deutlich verändern würde. Auch die seltenen Herzmuskelentzündungen, die aufgetreten sind, scheinen in der Regel milde zu verlaufen. Ich glaube, da kann man also zuversichtlich sein.

Der Diskurs Impfbefürworter gegen Impfgegner wir mehr schwarz und weiß geführt, Zwischentöne fehlen. Wie ist dieser Konflikt zu entschärfen?
So wie bei allen anderen Themen auch: Indem man tief Luft holt, sich gegenseitig ernst nimmt und wieder beginnt, sich zuzuhören. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass es einen harten Kern von Impfgegnern gibt, die wir nicht erreichen werden – mit keinem noch so guten Argument. Der Großteil der Menschen, die verunsichert sind, hat aus nachvollziehbaren Gründen Fragen. Dazu beigetragen haben etwa die unterschiedlichen Empfehlungen zur Verwendung des Impfstoffes von AstraZeneca. Da gab es Gründe, aber ich kann verstehen, dass das verunsichert hat. Auch wenn wir wissen, dass an der mRNA-Technologie seit über 30 Jahren geforscht wird, so glauben viele Menschen, dass es sich bei diesen Impfstoffen um etwas gänzlich Ungeprüftes handelt. Zudem geistert auch viel im Netz herum, das manchmal seriös klingt, obwohl es Unfug ist. Bedenken sollte man ernst nehmen und erklären, erklären, erklären.

Die Impfentscheidung ist eine Nutzen-Risiko-Abwägung, die Eltern bzw. Jugendliche treffen müssen. Wieso tun wir uns im Fall von Covid mit dieser schwerer als bei anderen Impfungen?
Wir Menschen sind in Bezug auf Risikoabschätzungen nicht besonders begabt. Wir empfinden es etwa als gefährlicher, Dinge aktiv zu tun, als Dinge zu unterlassen, also nichts zu tun – auch wenn die Folgen dieselben sind, oder die Unterlassung sogar schlimmere Folgen hat. Das nennt man den Unterlassungsbias. Statistik ist für uns schwer zu fassen, es fehlt an genuinem Verständnis und wir haben Wissensdefizite in diesem Bereich. Aus diesem Grund widmen wir uns im Ethikrat auch der Risikoethik. Wir schauen uns an, wie wir als Gesellschaft bessere Risikoabwägungen vornehmen können.

Ist es für Sie ein zulässiges Argument zu sagen: Wir impfen Kinder, um ihnen einen ungestörten Schulbesuch zu ermöglichen. Ist dies ethisch vertretbar?
Das erste und wichtigste Argument sollte immer der Eigenschutz des Individuums sein. Für Kinder und Jugendliche mit Erkrankungen gibt es eine ganz klare Impfempfehlung. Ich glaube aber, dass man auch bei gesunden Kindern und Jugendlichen nicht nur auf das Risiko durch die mögliche Infektion schauen sollte, also die seltenen schweren Verläufe und das etwas häufigere Long-Covid-Syndrom. Leben in der Pandemie, ungeschützt, hat weitere medizinische und psychische Auswirkungen auf diese Altersgruppe, die man durch eine Impfung verhindern könnte. Das fällt in dieser pandemischen Situation auch unter den Eigenschutz, man sollte neben dem Schutz vor der Delta-Variante auch ein unbeschwerteres Leben oder die Bildungsmöglichkeiten sehen. Hinzu kommt als zweites Argument jenes des Gruppenschutzes: Geimpfte Kinder schützen sich gegenseitig und auch jene Personen, die ihnen nahestehen. Das Argument des sogenannten Herdenschutzes würde ich erst zuletzt hinzuziehen, es ist in einer Pandemie aber nicht ganz irrelevant. Auch darüber sollte man diskutieren und mit Blick auf die jeweils aktuelle und die absehbare Situation Vor- und Nachteile abwägen.

Könnte man im Sinne der Generationengerechtigkeit nicht auch sagen: Es braucht eine Impfpflicht bei den Erwachsenen, um Kinder und Jugendliche zu schützen? Denn es gibt Studien, die belegen, dass bei höherer Durchimpfungsrate der Älteren die Jüngeren ebenso geschützt sind.
Wir haben vom Ethikrat eine Impfpflicht ausgeschlossen. Aber wenn man Kinder und Jugendliche nicht oder nachrangig impft, dann sollte man im Gegenzug so viele ältere Menschen wie möglich immunisieren und auch mithilfe anderer Maßnahmen versuchen, die Inzidenzen niedrig zu halten, um Jüngere zu schützen, Schulen zu sichern. Sonst gibt man die jüngeren Altersgruppen einfach dem Virus preis.

Die Pandemie hat Solidarität geweckt, mit Fortdauer scheint diese, vor allem gegenüber Jüngeren, geschwunden zu sein. Wie lautet ihre Erklärung dafür?
Spontane Solidarität funktioniert, ohne dass man eine Gegenleistung erhält. Solidarität, die nicht freiwillig ist, und/oder lange eingefordert wird, benötigt – um dauerhaft stabil zu bleiben – eine gewisse Gegenseitigkeit. Das bedeutet, es ist an der Zeit, dass junge Menschen anders in den Blick genommen werden. Junge Menschen haben sich sehr lange solidarisch gezeigt, zum Schutz der Menschen mit höheren Risiken. Gleichzeitig lernt man immer mehr, wie stark die Belastungen bei ihnen im Verlauf der Pandemie gestiegen sind. Deshalb sollten sie bei der Impfung nicht wieder als letzte drankommen und es sollte ihre Leistung stärker anerkannt werden. Zusätzlich braucht es kreative und großzügige Unterstützungsprogramme, um bei dieser Generation – den Schülerinnen, aber auch den Auszubildenden, Studierenden und Berufsanfängern – auszugleichen.

Wenn wir an den weiteren Verlauf der Pandemie denken: Wie viele Fälle, auch Todesfälle, kann man zulassen, um unsere Freiheit wiederzuerlangen? Und wie bewertet man so etwas?
Meiner Meinung nach sollte man nicht so an dieses Problem herangehen, mit irgendwelchen Schwellenwerten für akzeptable Todeszahlen. Das ist eine falsche Gegenüberstellung: Es geht darum, die Freiheiten, die unsere Gesellschaft ausmachen, so wenig wie möglich einzuschränken und gleichzeitig darum, die Gesellschaft und das Gesundheitssystem zu schützen. Die Maßnahmen können deshalb nicht einmal getroffen werden, sie müssen ständig verbessert und angepasst werden, auch wenn das mühsam ist. Das gilt zunehmend auch für die den Maßnahmen zugrunde liegenden Kriterien, etwa weil die Impfung das Pandemiegeschehen grundlegend verändert. Es geht also darum, die Maßnahmen auf die jeweils aktuelle Situation zuzuschneiden und sich um beide Ziele – Gesundheitsschutz mit möglichst wenig Freiheitseinschränkung – gleichzeitig zu bemühen.

Sie beraten zahlreiche Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, darunter auch die deutsche Bundesregierung. Wo holen Sie sich Rat?
Der Ethikrat besteht aus 24 Mitgliedern, da bin ich nicht allein. Wir beraten auf Basis unserer kollektiven Forschung, unseres kollektiven Wissens und holen uns viel zusätzliche Expertise. Wir ringen in diesem Gremium regelmäßig um unsere gemeinsame Position. Zum anderen betreibe ich seit Beginn dieser Pandemie Crowdsourcing. Ich berate mich mit Medizinethikerinnen und – ethikern weltweit. Wir haben uns, als diese Krise losging, sehr schnell vernetzt, etwa in Facebook-Gruppen oder über Google-Docs, und Wissen, Erfahrungen, Hinweise, Ratschläge ausgetauscht. Auch mit Forschenden anderer Disziplinen bin ich regelmäßig im Austausch. Eine schnelle wunderbare Quelle für aktuelle Forschungsergebnisse ist auch Twitter. Aber ganz generell war das gesamte letzte Jahr ein kontinuierlicher Lernprozess.

Sie haben gestern den Deutschen Nationalpreis erhalten. Wenn Sie zurückdenken, an den Beginn ihrer Karriere. Was waren Ihre Ziele und Erwartungen?
Meine Karriere sieht von außen vielleicht geradlinig aus, aber das ist auch deswegen, weil man meist nur Dinge in den Lebenslauf aufnimmt, die geklappt haben (lacht). Ursprünglich wollte ich mal Neurologin werden. Aber ethische und gesellschaftliche Themen waren mir
immer schon wichtig, auch schon im Medizinstudium. Schon vor 16 Jahren habe ich mich im
Philosophie-Magister mit gerechter Verteilung im Gesundheitswesen beschäftigt … aber
wenn ich meinem 25-jährigen Ich nun erzählen würde, was ich heute mache, ich denke die
würde kein Wort glauben.

Was haben Sie persönlich aus dieser Krise gelernt?
Für mich war es vor allem eine drastische Lernerfahrung. Durchaus auch im negativen Sinne, man muss sich eine dicke Haut zulegen, weil es in den sozialen Medien oft ruppig zugeht und ich natürlich in meiner Position auch Dinge öffentlich vertreten habe, die manchen nicht
gefallen haben. Da kriegt man auch Hass ab. Aber ich weiß sehr genau, dass es anderen da viel schlechter geht und dass ich insgesamt sehr privilegiert war und bin. Viele Menschen hatten eine weitaus schwierigere Zeit. Gerade deswegen: was mich immer noch absolut
begeistert sind jene Menschen, die sich für andere Risken ausgesetzt haben und dies auch immer noch tun oder die zur absoluten Höchstform auflaufen, ständig – einfach, weil es ihr Job ist.