Gefühlt geht gerade ein großes Durchschnaufen durch die Gesellschaft, verbunden mit dem Gefühl: Das Schlimmste ist überstanden. Wo stehen wir in der Pandemie aber wirklich?

Mit Glück haben wir für Jetzt das Schlimmste überstanden, es hat Österreich nicht so stark erwischt wie Spanien oder Italien. Das ist natürlich ein zweischneidiges Schwert, die Durchseuchung ist durch die Maßnahmen sehr niedrig geblieben, von der Herdenimmunität sind wir meilenweit entfernt. Solange es keine Impfung gibt, besteht aber immer die Gefahr, dass Covid-19 wieder neu auftritt. Der Fall im Postverteiler-Zentrum zeigt, wie schnell ein neuer Cluster entstehen kann. Die Gefahr ist noch nicht gebannt.

Warum ist das Virus so erfolgreich in der Ausbreitung?

SARS-CoV-2 ist infektiöser als die echte Grippe, aber besonders tückisch ist, dass Menschen schon ansteckend sind, während sie sich noch gesund fühlen. Diese Phase macht es so schwierig, die Übertragung zu stoppen, weil es eben auch ganz ohne Symptome zu Ansteckungen kommen kann.

Wagen wir den Blick in die Zukunft: Kommt eine zweite Welle auf uns zu?

Das wird einerseits davon abhängen, ob das Virus mutiert: Wenn das Virus mutiert und noch infektiöser wird oder zu schwereren Verläufen führt, dann könnte es zu einer zweiten Welle kommen, wie es bei der spanischen Grippe passiert ist: Damals war die zweite Welle wesentlich schwerer. Mutiert das Virus, wird es auch für eine wirksame Impfung schwierig. Bis dato sehen wir beim Coronavirus aber relativ wenig Mutationen. Bleibt das Virus stabil, ist meine Einschätzung, dass es keine zweite Welle geben wird, da haben wir als Gesellschaft zu viel gelernt: Wir wissen, dass Virus muss man ernst nehmen, auch in unseren westlichen Gesundheitssystemen kann die Lage dramatisch werden. Es wird zu einzelnen Clustern kommen, die man rasch entdecken und eindämmen muss. Aber ein zweites Ischgl, wodurch sich das Virus in Österreich und ganz Europa verteilt, wird es nicht geben.

Hat Österreich alles richtig gemacht?

Was ich der Regierung vorwerfe, ist, dass die Kollateralschäden für die Gesundheit völlig ausgeblendet wurden, es gab eine reine Fixierung auf Krankheitszahlen und Kurven. Am Beginn tat man das völlig zu Recht, das war notwendig, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Doch im weiteren Verlauf hätten wir differenziert darüber reden müssen, wie viel Kollateralschäden wir bereit sind in Kauf zu nehmen, um Covid-Tote zu verhindern. Zum Beispiel ist Arbeitslosigkeit einer der zentralen Faktoren für psychische Erkrankungen und Suizide. Plötzlich gibt es 40 Prozent weniger Herzinfarkte – die sind nicht verschwunden, sondern die Menschen haben die Infarkte zu Hause durchgemacht. Die Gesundheitsversorgung wurde heruntergefahren, Schulschließungen führen zu mehr Gewalt in den Familien. Dazu gibt es momentan überhaupt keine Forschung in Österreich, die Spätfolgen werden sich erst mit der Zeit zeigen.

Als Leiter der Cochrane-Stelle in Österreich sind Sie Experte für evidenzbasierte Medizin: Welche wissenschaftlichen Beweise gibt es für das Tragen von Schutzmasken eigentlich?

Für Covid-19 gibt es dazu noch keine wissenschaftlichen Beweise, aber es gibt Daten von der Influenza, die zeigen, dass Schutzmasken das Übertragungsrisiko sogar im Haushalt senken kann. Generell sind Schutzmasken aber eine sehr harmlose, einfach umzusetzende Maßnahme gegen die Verbreitung – und sie signalisieren: Es ist noch nicht alles wieder normal. 

Ein weiterer Evidenz-Streitfall. Welche Rollen spielen Kinder und Schulen für die Ausbreitung der Pandemie?

Bisher deutet alles daraufhin, dass Kinder und Schulen eine geringe Rolle spielen. Eine Studie in Australien hat Kinder nachverfolgt, die mit Covid-19 in die Schule gegangen sind. Es hat sich herausgestellt:  Die erkrankten Kinder haben kaum andere Kinder und keine Erwachsenen angesteckt. Wir wissen nicht, warum Kinder bei SARS-CoV-2 eine geringere Rolle zu spielen scheinen, aber das schlechte Image von Kindern als Virenschleudern, das von der Grippe und Erkältungskrankheiten stammt, trifft hier anscheinend nicht zu. 

Dass die Schulen nun wieder offen sind, war also richtig?

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Meiner Einschätzung nach, hätte man Schulen in Regionen, wo es keine Covid-Fälle gab, schon früher aufsperren können – und dort untersuchen, welche Folgen das hat. Für die Zukunft wird es wichtig sein, regional zu entscheiden und Maßnahmen nicht mit der Gießkanne über das ganze Land zu verteilen. Einen zweiten kompletten Shutdown werden wir als Gesellschaft nicht durchhalten, das muss differenzierter werden.