Für Kind X, nennen wir es Lena, beginnt die Tortur um sechs Uhr morgens: Klingelt der Wecker, fängt ihr Bauch an zu grummeln. Der Achtjährigen ist die Schule zuwider. Am liebsten würde sie den Unterricht gar nicht mehr besuchen. Der Freitag beginnt mit Deutsch. Einmal kurz durchatmen. Für das Diktat hat sie zum Glück gelernt. Gefährlich wird es erst in der zweiten Stunde: Sport. Heute steht Reckturnen auf dem Programm. Schon bei dem Gedanken daran wird Lena speiübel.

Spätestens in der Umkleide zittert das Mädchen am ganzen Körper. „Ich kann das nicht“, murmelt sie ihrer Freundin zu. Zu groß ist Lenas Angst, sich vor ihren Klassenkameraden zu blamieren. Ausrede, verlass mich nicht – so lautet nicht nur ein Sprichwort aus dem Volksmund, sondern auch das Credo von Lena. Vorgetäuschte Fußschmerzen bescheren ihr einen Zuschauerplatz auf der Langbank. Zumindest bis zur nächsten Sportstunde. Dann beginnt der Spießrutenlauf erneut.

Die Schule belastet jedes fünfte Kind

Kinder mit Schulangst leiden. Und das nicht selten: Rund 20 Prozent aller Schülerinnen und Schüler in Österreich fühlen sich laut einer HBSC-Studie ziemlich bis sehr stark belastet. Das bleibt nicht ohne Folgen. Die Angst, den Ansprüchen nicht gerecht zu werden, kann krank machen: „Die betroffenen Kinder leiden unter Stresssymptomen wie Bauchschmerzen, Übelkeit und Schlafstörungen. Manche beginnen sogar zu bettnässen“, sagt Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie. Bis Eltern den Grund für das Leiden ihres Kindes finden, vergeht oft viel Zeit:

Das kann auch die Psychologin Luise Hollerer bestätigen. Sie erzählt, dass viele Eltern zunächst eine körperliche Ursache vermuten: „Sie bringen die Schmerzen in Zusammenhang mit falscher Nahrung, zu wenig Schlaf oder beginnenden Erkrankungen“, sagt sie. Erst, wenn sich die Beschwerden über einen gewissen Zeitraum manifestieren, geht die Vermutung Richtung Schulangst.

Die Furcht vor der Schule hat viele Gesichter: Schlechte Noten, Überforderung oder die Scheu vor neuen Dingen: Betroffene haben Angst, die eigenen Erwartungen nicht zu erfüllen, jemanden zu enttäuschen oder kritisiert und abgelehnt zu werden. Das kann am Unterricht, den Lehrern oder den Mitschülern liegen. „Auch Mobbing ist ein großes Thema“, sagt Luise Hollerer. Das bestätigt auch ein Blick auf die Zahlen: Laut einer Studie der OECD aus dem Jahr 2015 werden in keinem anderen europäischen Land mehr Schüler gemobbt als in Österreich. Damals gab jeder zweite Schüler an, sich in seiner Klasse unwohl zu fühlen. Aber woher kommt das? Laut Hollerer biete die Schule ein Sozialvergleichssystem. Das beginne bereits bei Fragen,wie: Wer hat schon ein Smartphone und wer nicht?

Notendruck: Eltern erwarten zu viel

Ein Auslöser für Stress kann auch die hohe Erwartungshaltung der Eltern sein. Martin Schenk führt das unter anderem auf gesellschaftliche Umbrüche zurück: „Früher waren die Aufstiegschancen andere“, sagt er. „Die Kinder verstehen das zwar noch nicht, aber sie spüren die Sorgen der Eltern.“ Während die Unsicherheit wächst, werden gute Anstellungsverhältnisse weniger. An deren Stelle rücken Werkverträge und Honorarnoten. „Um in dieser Gesellschaft bestehen zu können, wünscht man sich als Elternteil natürlich eine gute Ausbildung für seine Kinder“, so der Experte von der Diakonie.

Was tun gegen Schulangst?

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