In der Studierstube in einem Haus in Königsberg, heute Kaliningrad, nahmen Werke Gestalt an, die Weltbild und Denken erschütterten und nachhaltig verändern sollten. Ein Philosoph von bald 60 Jahren, verfasste in der beschaulichen Provinzstadt, die er sein Leben lang nicht verlassen hatte, seine Hauptwerke, die ab 1781 veröffentlicht wurden: „Kritik der reinen Vernunft“, „Metaphysik der Sitten“, „Kritik der praktischen Vernunft“, „Kritik der Urteilskraft“.

Immanuel Kant schrieb mit diesen sperrig formulierten, aber doch unendlich reichen Büchern sozusagen die philosophische Verfassung der Aufklärung. Er machte die menschliche Vernunft zur Grundlage seiner Überlegungen. Und entwickelte eine Philosophie, die mittels der Vernunft bereit ist, alles in Frage zu stellen, aber auch etwas Neues aufzubauen. 

Die Vernunft muss sich auch selbst überprüfen

Die Vernunft selbst steht dabei genauso auf dem Prüfstand der Vernunft. Denn es geht hier um ein Denken, das nicht von der Kanzel herab Weisheiten verkündet: Kant wünscht sich explizit eine Öffentlichkeit, die seine Werke einfach nicht hinnimmt, sondern kritisch diskutiert. In Europa, das seit Jahrhunderten von religiösem Denken geprägt war, war diese Ansicht schlicht revolutionär. Und gefährlich. Man nannte Kant bald einen „Alleszermalmer“, weil er gewisse religiöse Doktrinen ablehnte Allerdings begriff Kant metaphysische Fragen etwa nach Gott oder der Unsterblichkeit der Seele durchaus als wesentlicher Teil des menschlichen Denkens, „denn sie entstehen aus unserem Hang, Fragen zu stellen, die unsere Vernunft übersteigen“, wir Ursula Renz, Vorstand des Instituts für Philosophie an der Universität Graz, erläutert.

Die scheinbar so schlichte, bescheidene Aufforderung zum Selbstdenken hat enorme Folgen: Kants berühmte Zusammenfassung: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ fordert dazu auf, mutig zu sein und zu überprüfen, ob das, was weltliche und religiöse Autoritäten behaupten, vor der menschlichen Vernunft bestehen kann. Sozusagen eine Umkehr der Verhältnisse. Wer alles hinnimmt, ist unmündig. Es mag bequem sein, alles hinzunehmen, aber laut Kant hat der Mensch die Pflicht, sich seines Verstandes zu bedienen.

Ursula Renz: „Kants wohl wichtigste Lektion ist: Man kann nicht einfach schauen, wie die Dinge jetzt sind, wenn man entscheiden will, wie etwas sein soll. Kants Denken stellt damit quasi der ‚normative Kraft des Faktischen´ einen Kontrapunkt entgegen.“

Die Freiheit, bzw. der freie Wille sind zwar ebenso nicht beweisbar, aber denkmöglich. Mit dem Sollen kommt der Gedanke, dass wir uns entscheiden können. Kant hat mit dem kategorischen Imperativ sogar ein Modell für ein ausnahmslos gültiges Sollen festgelegt. Und man hat die Pflicht, seine Handlungsmaximen zu überprüfen, das ist wichtiger als alles Theoretisieren. Letztlich entsteht die Freiheit aus der Befolgung von Pflichten, gegenüber den Mitmenschen, der Gemeinschaft, gegenüber sich und seiner eigenen Vernunft.

Als Leitfigur der Aufklärung ist Kant auch zur Leitfigur Europas geworden. Ursula Renz: „Wenn mit Europa eine Werte-Gemeinschaft gemeint ist, dann hätte Kant vermutlich eine solche begrüßt – wenn sie sich den Werten der Aufklärung verpflichtet. Das bedeutet aber auch, nicht nur fremde, sondern eigene Wertvorstellungen zu überprüfen.“ Ob man mit Kant eine „Leitkultur“ postulieren könne? Renz hat ihre Zweifel: „Wir müssten uns fragen: reden wir über eine Leitkultur, die festhält, dass die Prinzipien von Aufklärung, Demokratie, Laizismus, Menschenrechten und Zivilgesellschaft den Vorrang gegenüber religiösen Normen haben sollen. Oder meinen wir mit Leitkultur einfach, dass die Dinge so laufen sollen, wie wir es uns gewöhnt sind? Letzteres wäre nicht im Sinne von Kant.“

Der oft zitierte Mut zum Selbstdenken ist übrigens kein Freibrief, sondern nur eine Art erster Schritt aus der Unmündigkeit. Wenn auf Querdenker-Demos Kant und sein „sapere aude“ gegen das „System“ in Stellung gebracht wird, folgt nicht daraus, dass man aus dieser kritischen Haltung alles behaupten könne. Kant geht es um „wohlbegründete Einsprüche“. Die Behauptung, empirische Daten seien falsch, sind kein wohlbegründeter Einspruch. Kant-Spezialisten wie Marcus Willaschek, geben jedoch zu bedenken, dass Kants Zuversicht darüber, dass eine Öffentlichkeit aus freier Rede und freier Presse automatisch die Vernunft durchsetzt, den Praxistest nicht bestanden hätten. Die Wahrheit konstituiert sich komplexer.

Ein alter, weißer Mann

Natürlich findet sich bei Kant auch Problematisches. Man könnte ihn auch zu den „weißen, alten Männern“ zählen, und sein universeller Anspruch hat in der Praxis viele ausgeschlossen. Kant kritisierte, viele seien zu faul, sich ihres Verstandes zu bedienen. Zudem finden sich in seinen Schriften heikle Aussagen zum Begriff der Menschenrassen. Oder antisemitische Äußerungen. Renz dazu: „Kant ist ein Kind seiner Zeit. Man muss solchen problematischen Passagen in seinem Werk natürlich kritisch diskutieren, aber es wäre fatal, zu schließen, dass wir Kant deshalb nicht mehr lesen sollten. Hören wir auf, Kant zu lesen, so zahlen wir einen Preis, den zu zahlen niemand wollen kann: wir gäben die Einsicht in zentrale Grundprinzipien der Aufklärung preis. Viel besser wäre es, wir lernten, Ambivalenzen auszuhalten“