Bei Michael Portnoy in der Helmut-List-Halle ist man allein. Detto im Künstlerhaus bei Jeremy Deller und Jasmina Cibic. Bei Artur Zmijewski in der Girardigasse, im Forum, bei der Geschichtsaufarbeitung des Heilstollens Bad Gastein. Im Literaturhaus bei Georg Lukacs. Nur im Palais Attems, bei Oscar Murillo & Co., trifft man einen (1) weiteren Gast. Wirklich überlaufen sind die Schauplätze des Kunstparcours „Grand Hotel Abyss“ bei diversen Lokalaugenscheinen nicht.

Mittlerweile ist Halbzeit in Ekaterina Degots zweitem steirischen herbst – dem ersten, den sie mit entsprechender Vorbereitungszeit programmieren konnte. Aber wo ist das Publikum? Oder, aus Besuchersicht gefragt: Wo ist heuer eigentlich der herbst? Das Festival ist 2019 so unsichtbar wie selten zuvor in seiner 51-jährigen Geschichte. Dabei geht es gar nicht um die Aufmerksamkeit bei einer breiten Masse. Die hat der herbst traditionell meist ohnehin nur über Skandalisierungen erreicht. Als Festival für zeitgenössische Kunst ist und bleibt er ein Minderheitenprogramm – was nichts an seiner Relevanz ändert. Doch aktuell scheint der herbst sogar am kunstinteressierten Teil der Öffentlichkeit vorbeizuzielen.

Ein Grund dafür, dass das Festival schlecht als solches wahrzunehmen ist, liegt wohl in der neuen Struktur: Eine wie über den Stadtplan gebröselte Ausstellung lässt keine Festivalstimmung aufkommen. Es fehlen Leuchtturmprojekte, die das kunstinteressierte Publikum anziehen, die festliche Stimmung provozieren. Das immerhin soll sich 2020 ändern: Da wird die Neue Galerie im Joanneum Hauptschauplatz des Parcours. Ausgerechnet mit einem Projekt, das das Grazer „Kulturjahr 2020“ offenbar zu uninteressant fand und das es nicht in die Auswahl der 89 (!) Projekte schaffte. Im Grunde eine Ohrfeige für das herbst-Team.

Die Standorte sind also bei Weitem nicht das einzige Problem im herbst. Als exzellente Theoretikerin und Expertin für bildende Kunst ist Intendantin Ekaterina Degot unumstritten. Sie hat dem herbst politische Leitmotive verordnet, die sich auf dem Papier gut lesen. Auch wenn es in der Vergangenheit immer wieder eminent politische Festivaljahrgänge gegeben hat – dass der herbst als „Grand Hotel am Abgrund“ heuer die Funktion avancierter Kunst in der Gegenwart kritisch infrage stellt, ist spannend. Auch vor dem Hintergrund von Wolfgang Ulrichs 2016 publiziertem seismografischem Essay „Siegerkunst“, der die zeitgenössische Kunstszene zum Wohlstandsphänomen umgemodelt sieht, in dessen Rahmen auch kritischen Kunstvereinen, Festivals und Museen nur noch die Rolle als „Schmuckwerk oppositionellen Geistes“ bleibt.

Insgesamt aber driften Theorie und Umsetzung im herbst 2019 eklatant auseinander: Degots Programm hält nur einem flüchtigeren Blick stand. Wie schon im Vorjahr kämpft man eher vergeblich darum, einen Spannungsbogen über ein dreieinhalbwöchiges Festival zu legen. Die Zahl der Performances hat die Intendantin etwa um die Hälfte reduziert; aber auch der qualitative Anspruch wirkt bis dato stark gekappt - neben kompletten Fehlschlägen waren auch die gelungeneren Produktionen eher biederer Natur.

Ein Qualitätsproblem müsste man dem herbst deswegen noch nicht gleich unterstellen: Es zählt zu den Merkmalen des nach Intendanten-Prinzip funktionierenden Festivals, dass die jeweiligen Führungspersönlichkeiten ihre Expertise einbringen: Stand bei Peter Oswald 2000 bis 2006 die Musik im Fokus, war es bei Veronica Kaup-Hasler 2007 bis 2017 die Performancekunst. Nun ist es die bildende Kunst – und damit, folgt man Degots Ansatz, eine Hybridsparte, die längst als formal vielgestaltigstes aller Genres andere Gebiete der Kunst in ihr Paradigma eingehegt hat.

Eine solche Veränderung der Schwerpunkte sorgt für die Dynamik des Festivals und verhindert ewiggleichen Trott. Aktuell aber bewirkt die Verschiebung der programmatischen Inhalte nebst der Beschneidung des Programms vor allem einen Verengungs-, mehr noch, einen Schrumpfeffekt. Dieser steirische herbst wirkt klein.Klein gedacht, klein gemacht. Das aber hat er nicht verdient. Immerhin zählt das 1968 gegründete Festival heute zu den wichtigsten Marken im internationalen Kunstbetrieb. Andererseits holt Degot Stars wie Jeremy Deller, Oscar Murillo, Elmgreen & Dragset nach Graz. Mit Yoshinori Niwas Installation auf dem Hauptplatz, im Volksmund „Nazi-Container“ genannt, schaffte man es im Vorjahr bis in die „New York Times“. Das ist, auch in markenpolitischer Hinsicht, verdienstvoll. Aber abgesehen von der abends halbwegs gut gefüllten herbst-Bar auf dem Kaiser-Josef-Platz hat der steirische herbst 2019 in der Stadt selbst kaum Präsenz.

Ein Festival funktioniert aber nicht, wenn es nebst dem künstlerischen und intellektuellen seinen sozialen Aspekt vernachlässigt. Mehr als die elegante Kuratorenprosa im Guidebook braucht es den Kommunikationsakt: Man erlebt Gemeinsames und redet darüber. Aber das Zentrum, der Ereignisbogen fehlt dem aktuellen Programm.

Längerfristig zum Problem werden könnten die atmosphärischen Störungen zwischen dem herbst und langjährigen lokalen Partnern. Schwer wiegt hier, dass manche der lokalen Partner die Wertschätzung vermissen und ein Desinteresse an ihren Inhalten verspüren, die sie letztlich ins Portfolio des Festivals einbringen. Dass finanzielle Zuwendungen für gemeinsame Projekte bescheiden sind, hat zwar durchaus Tradition. Dass der herbst mit achtköpfigem Dramaturgen-Team und mit immerhin 4,2 Millionen Euro Budget* ein relativ dünnes Programm produziert, sorgt für Missmut. Zumal im Vergleich dazu das Grazer Kulturjahr 2020 mit 5 Millionen Euro ein ganzes Jahr Programm bestreiten möchte. Zumal die Diagonale mit 1,3 Millionen Euro Budget eine viel intensivere Präsenz in der Stadt zustande bringt. Oder zumal sich das Elevate-Festival mit knapp bemessenen 320.000 Euro international exzellent vernetzt hat und in Sachen aktueller gesellschaftspolitischer Diskussion locker mithält.

*Text nach Richtigstellung des herbst geändert