Der Theaterbetrieb steht still. Wie fühlt es sich an, durch die leere Staatsoper zu gehen?
Bogdan Roščić: Es ist hart, das Haus so zu sehen. Es bewirkt aber auch eine Art Trotzreaktion. Das bündelt sich bei mir konkret in die Vorstellung des allerersten Akkords der ersten Vorstellung nach der Pause. Diese Sehnsucht teile ich mit vielen Kollegen. Der Ehrgeiz, stärker und besser denn je zurückzukommen, ist ungeheuer. Die Staatsoper hat Weltkriege überstanden, ihr kann Corona nichts anhaben.

Das Haus bietet ja den täglichen Live-Stream älterer Produktionen, aber das ist kein wirklicher Ersatz für reales Theater.
Roščić: Die Essenz des Theatererlebnisses ist die physische Nähe, die Gemeinschaft, der Moment. Wenn man diesen Effekt irgendwann digitalisieren kann, dann wird sich das Kulturleben eventuell verändern. Aber jetzt ist er durch nichts zu ersetzen.Wie plant man eine Saison in Coronazeiten?
Roščić: Es wird viel über Probenmöglichkeiten gesprochen, teilweise eine Scheindebatte, weil der Erlass, der das regeln soll, noch nicht vorliegt. Der nächste Aspekt ist die Verfügbarkeit der Künstler: Oper ist die internationalste Kunst überhaupt. Bis wann und wie kriegt man die Künstler zu den Proben? Und letztlich gibt es die Frage, ob und wie ab September gespielt werden kann.

Da geht es um Abstandsregeln im Publikumssaal?
Roščić: Wenn die Abstandsregeln von einem Meter gelten sollten, bleibt – wenn man streng rechnet – im Parkett ein Sechstel der Plätze. Aber es gibt keinerlei Vorgaben, nach denen man sich derzeit richten könnte. Derzeit besteht meine Arbeit darin, auf möglichst viele Szenarien vorbereitet zu sein. Aber wir können keine Pläne machen für Szenarien, die in 24 Stunden wieder Geschichte sind.

Was halten Sie für das wahrscheinlichste Szenarium?
Roščić: Es hoffen doch alle, dass es noch im Mai in Österreich keine Neuansteckungen mehr geben wird. Das wahrscheinlichste Szenario ist immer noch, dass wir am 7. September starten können.

Nun hat der Bundestheater-Chef Christian Kircher gemeint, man rechne damit, dass im Juni keine Großensembles proben können. Ist die Eröffnung im September mit Puccinis „Madama Butterfly“ überhaupt möglich?
Roščić: Wir brauchen im Juni keine Proben mit Großensembles. Und bevor ich absage, strecke ich mich nach der Decke. Aber noch mal: Der Erlass ist noch nicht geschrieben. Wir werden improvisieren müssen. Der Regisseur Kirill Serebrennikov, der bei uns 2021 Wagners „Parsifal“ inszeniert, hat aus dem Hausarrest in Moskau für Zürich die beste „Così fan tutte“ von Mozart inszeniert, die ich je gesehen habe. Nach dem Krieg hat man in Wien in ungeheizten Räumen in Winterkleidung und ohne Requisiten geprobt. Ich denke, wir können aus unserer Zeit etwas machen. Aber wenn die Reisebeschränkungen bis zur letzten Probenphase bleiben, dann wird es unmöglich.

Wie ist denn die Kommunikation mit der Politik bisher gelaufen? Stimmt es, dass mit Ihnen niemand geredet hat?
Roščić: Nein, das kann ich nicht bestätigen. Wir hatten unkomplizierten, direkten Kontakt mit Staatssekretärin Ulrike Lunacek und ihrem Team.

Viele Künstler, die in der Staatsoper auftreten, sind freischaffend und bekommen bei Absagen kein Honorar. Wie stehen Sie zum Thema Abschlagszahlungen?
Roščić: Mein Zugang zählt noch nicht, weil ich für die jetzt entfallenden Vorstellungen nicht zuständig bin. Prinzipiell sind die freien Künstler ein fester Teil des Ganzen. Sie können nicht weggeschoben werden, weil sie formal nicht zum Haus gehören. Aber hier sind nicht die Theater in der Pflicht, sondern die Politik, man kann nicht eigenmächtig Vertragsbestimmungen übergehen und Steuergeld zuteilen. Das geht nur mit einer politischen Lösung, vielleicht sogar nur auf der europäischen Ebene. Und die muss es geben.

Sie bringen in Ihrer ersten Spielzeit sehr viele Premieren, nämlich zehn. Aber ist der Spielplan mutig genug? Es gibt keine Uraufführung, nur eine Erstaufführung.
Roščić: Solche Zuschreibungen wie „mutig“ muss ich anderen überlassen. Aber es wird viel Unheil angestellt dadurch, dass Intendanten zu viel darüber nachdenken, ob man sie eh als mutig loben wird. Das habe ich mir untersagt. Ich habe lieber überlegt, was am meisten nottut.

Was war die erste Priorität?
Roščić: Ich halte es – und das hat nichts zu tun mit meinen Vorgängern – für ganz wichtig, so viele der meistgespielten Stücke des Repertoires wie möglich in neuer Form zu zeigen. Musikalisch natürlich: „Carmen“, „Traviata“, „Butterfly“ zählen zum klassischen Repertoire, das – es ist ja kein Geheimnis – an einem Repertoirehaus oft nicht viel geprobt werden kann. Und natürlich wollte ich das auch szenisch neu aufstellen. Deshalb haben wir auch Übernahmen von bestehenden Inszenierungen, um auf diese extrem hohe Zahl von zehn Premieren kommen zu können. Aber es ist trotzdem immer noch eine enorme Kraftanstrengung für das Haus. Da bin ich stolz darauf, dass das gelungen ist.

Und warum keine Uraufführung?
Roščić: Große Häuser stehen in der Schuld, Uraufführungen zu machen. Aber man muss an die Nachhaltigkeit denken. Der Opernbetrieb müsste auch eine Form finden, wie man leichter, schneller, günstiger neue Werke ausprobieren kann. Für die Staatsoper bedeutet das auch andere Spielstätten als das Haupthaus. Das wird uns die nächsten Jahre sehr beschäftigen.

Sie haben enorm viel Regietheater angesetzt, das vom Staatsopernpublikum traditionell wenig goutiert wird. Wollen Sie das Publikum umerziehen oder austauschen?
Roščić: Weder noch. Ich glaube, das kann man weder wollen noch durchführen. Das Haus ist für alle da. Hinter dem Programm stehen keine strategischen Überlegungen, sondern künstlerische Überzeugungen, der Glaube an die Qualität von dem, was wir anbieten.

Zwei Personalien: Der viel kritisierte Placido Domingo wird nächstes Jahr auftreten. Und entgegen den Erwartungen kommt es doch nicht zum Debüt von Stardirigent Teodor Currentzis.
Roščić: Man kann Musiker nicht dazu zwingen, sich zu verstehen. Die Liebe zwischen Currentzis und dem Orchester muss erst wachsen. Die Verträge mit Domingo habe ich vor drei Jahren geschlossen, es war ihm wichtig, sich von seinem Wiener Publikum zu verabschieden. Ich sehe keinen Grund, diese Verträge nicht zu erfüllen. Ich will das nicht verharmlosen, aber es ist nicht in Ordnung, Domingo mit jemandem wie Harvey Weinstein gleichzusetzen. Auch durch die Domingo-Debatte sind viele Missstände Gott sei Dank unmöglich geworden. Es wird nicht mehr gekuscht werden, nur weil einer Maestro heißt. Und das ist eine gute Folge.

Was passiert nach dem Skandal bei der Ballettakademie?
Roščić: Die Kommission hat ihren Bericht vorgelegt, es gab in Folge personelle Konsequenzen. Der neue Ballettchef Martin Schläpfer kooperiert nun mit den besten Ballettschulen der Welt, damit diese ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in die neue „Verfassung“ der Akademie einbringen. Ab Mai geht es in die Umsetzung, auch um die budgetäre: Wenn man ein Lastenheft von der Politik bekommt, dann muss man auch die Mittel zur Erfüllung bekommen.

Und den Opernball werden Sie auch nicht abschaffen, oder?
Roščić: (lacht) Der war gut. Wir werden im Mai mitteilen, wie er künftig organisiert wird. Ob ich persönlich schon mal dort war, gerne tanze usw. kann ja nicht das Niveau der Auseinandersetzung sein: Der Opernball ist für die Staatsoper von zentraler Bedeutung, fürs Marketing, fürs Fundraising usw. Und er muss erstklassig produziert werden, wie alle anderen Produktionen der Staatsoper.

Wohin wollen Sie das Haus führen?
Roščić: Die Staatsoper hat nur einen Platz: an der Spitze des weltweiten Operngeschehens, als Leuchtturm, der den täglich neu erbrachten Beweis für die Relevanz der Oper in die Welt strahlt. Was wir wirklich angehen müssen, ist die Öffnung des Hauses für alle. Wir müssen junges Publikum anziehen. Das Haus wird von allen Österreicherinnen und Österreichern ermöglicht, deshalb muss es auch für alle da sein. Wir müssen allen ein Angebot machen. Ich wäre stolz, wenn man in fünf Jahren über mich sagen kann, er hat das Haus geöffnet.


Das Interview wurde über Videokonferenz geführt. Die Fragen stellten neben Martin Gasser Peter Grubmüller (OÖN), Florian Oberhummer (SN) und Markus Schramek (TT).