Die Ablehnung war breit gestreut, als diese Woche die deutsche Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“ erschien. Eine entsprechende Forderung des amerikanischen Rechteinhabers hatte den Verlag Hoffmann und Campe veranlasst, für die Übersetzung des bei der Inauguration von Joe Biden vorgetragenen Werks ein „erfahrungsdiverses“ Übersetzerinnentrio zu beauftragen. Uda Strätling, Kübra Gümüay und Hadija Haruna-Oelker konzentrierten sich in ihrer Arbeit auf die Vermittlung der politischen und sozialen Bedeutungsebenen in Gormans Gedicht – sehr zuungunsten von Reim und Rhythmus, Stil und Schönheit.
Sieht man Übersetzungen vor allem als „Möglichkeit einer literarischen Antwort auf einen bereits bestehenden Text“, so wie das die Autorin und Übersetzerin der 2020 gekürten Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück, Ulrike Draesner, in einem lesenswerten Essay getan hat, ist das ein Unding. Hält man sich hingegen an den oft zitierten Satz des Dichters Robert Frost, „Poesie ist das, was in der Übersetzung verloren geht“, scheint akzeptabel, dass die deutsche Gorman-Übersetzung künstlerisch überhaupt nichts zu wollen scheint.


Aber die auch in anderen Ländern geführte Debatte dreht sich längst nicht mehr um die Qualität von Übersetzungen, sondern um die Diversitätsansprüche, die sie stellen: „Es geht nicht darum, wer das übersetzen kann, es geht darum, wer den Auftrag für die Übersetzung bekommt“, formulierte es die niederländische Autorin Janice Deul, die mit einem Text in der Zeitung „De Volkskrant“ den Rückzug der für die Übersetzung engagierten Literatin Marieke Lucas Rijneveld veranlasst und eine Debatte angestoßen hatte, die nun seit mehr als einem Monat nicht nur die literarische Welt bewegt.


Natürlich hat Deul in gewisser Hinsicht recht: Unter deutschen Dolmetschern und Übersetzerinnen ist der Anteil nicht-weißer Personen nicht einmal erhoben. Und als die American Literary Translators Association 2020 den Anteil schwarzer ÜbersetzerInnen ihrer Branche erhob, ergab die Umfrage einen Anteil von gerade zwei Prozent.
Doch Deuls Ansatz hat seine Tücken. Um diese zu verstehen, geht es zurück zum Anfang der identitätspolitischen Debatten.

Die Sorge um minoritäre Identitäten ist zuallererst ein notwendiger Akt der Emanzipation: Dass man etwa als junge, schwarze Frau ein Leben führt, dessen Realität in der Öffentlichkeit und in den Medien bis zur Unsichtbarkeit marginalisiert wird, oder dass Transgender-Personen ihre Wirklichkeit nicht in einem dualen Mann/Frau-Prinzip abgebildet gesehen haben – solche Diskriminierungserfahrungen waren der Auslöser dafür. Die politische Selbstbehauptung ist aber in einem dialektischen Prozess in ein Beharren umgeschlagen und hat neue normative Begriffe von Identität produziert. Fast eifersüchtig werden diese Identitätskonzepte verteidigt und einbetoniert. Das hat eine Logik hervorgebracht, die letztlich zur Forderung führt, dass das Gedicht einer schwarzen, jungen Frau von einer Frau übersetzt werden muss, die ebenso Diskriminierungserfahrungen gemacht hat, deren Erfahrungshorizont also möglichst jenem der anderen gleichen soll.
In einem weiteren Schritt wird jegliche „Einmischung von außen“ als kulturelle Aneignung und Vereinnahmung abgelehnt: Kein Weißer solle den Schrecken schwarzer Existenz darstellen. Die anfängliche Empörung über Diskriminierung hat sich zum neuen moralischen Gebot gewandelt, nach dessen Logik Bob Dylan niemals auf legitime Weise ein Lied über den Mord an der schwarzen Küchenmagd Hattie Carroll hätte singen können.


Die Forderung, dass Kunst und Kultur die Diversität des Lebens spiegeln sollen, ist wichtig. Daraus hat sich aber ein Regime der Repräsentation entwickelt, in dem Kunst auf ihr soziokulturelles Element bzw. auf ihren emanzipatorischen Gestus reduziert wird. In diesem Regime wird mehr davon gesprochen, welche ethnische Zugehörigkeit und welche sexuelle Orientierung eine Künstlerin oder ein Künstler hat: Diese Individuen werden letztlich nicht mehr als Individuen, sondern als Repräsentanten ihrer Kultur wahrgenommen, die die ihnen zugewiesenen Rollen zu performen haben. Der Kunstschaffende verschwindet in letzter Konsequenz aus der Kunst. So wie auch Gorman als Autorin aus der Debatte verschwindet, weil man gewissermaßen nicht ihr Gedicht, sondern ihre Lebenserfahrung übersetzen möchte.
Dabei kann eine Übersetzung mehr sein als die behutsame Verwaltung jenes Verlusts, von dem Frost spricht. Die literarische Nachdichtung kann auch eine Bereicherung sein: Die schwedische und die französische Übersetzung mögen das belegen. Der Rapper Timbuktu und die Sängerin Marie-Pierre Kakoma stellen den Text in die Tradition von Hip-Hop bzw. Spoken Poetry und unterstreichen die grundlegende Ästhetik vor Gormans Gedicht: dass es aus einer oralen Tradition zwischen Popsong und Predigt stammt. So kommt Gormans Kunst wieder zu ihrem Recht.