Sie sind der Neue in der Jury. Wie gut kennen Sie den Bachmann-Preis?
MICHAEL WIEDERSTEIN: Da ich kaum fernsehe und in den letzten Jahren neben der Schweizer Literatur vor allem amerikanische und britische Gegenwartsliteratur gelesen habe und obendrein der Zeitraum Ende Juni/Anfang Juli seit Jahren für meine Familienferien reserviert ist, habe ich Lesungen und Diskussionen immer erst im Nachhinein angeschaut. Natürlich kenne ich die großen, legendären Auftritte, auch das Prozedere ist mir bekannt – und viele der ehemaligen Jurorinnen und Juroren und Autoren.

Wie oft waren Sie vor Ort?
Kein einziges Mal.

Aus Deutsch-Schweizer Perspektive: Welchen Stellenwert hat der Bachmann-Preis für die deutschsprachige Literatur?
Er lebt ein Stück weit natürlich vom Mythos. Das hat weniger mit der Qualität der Texte oder der Jury zu tun, sondern vor allem damit, dass es die Säulenheiligen der Kritik, die zum Teil in der Jury sassen, einfach nicht mehr gibt. Das Publikum hat aufgehört, an einzelne Autoritäten zu glauben und macht sich stattdessen lieber selbst ein Bild. Aktuell zieht der Wettbewerb allerdings wieder an, was die Relevanz angeht.

Warum?
Weil sich offenbar herumgesprochen hat, dass es in den Reihen der Lesenden weniger „Dichter-Dichter“ braucht, die angestrengt versuchen, ihrem Publikum literarisch und mit erhobenem Zeigefinger die Welt zu erklären. Warum sollten Schriftsteller das eigentlich besser können als Hausmeister, Konzernchefinnen oder Quantenphysiker? Was es vermehrt braucht, sind gute Geschichtenerzähler mit guten Geschichten – und beides ist bedauerlicherweise im deutschsprachigen Raum viel schwieriger zu finden, als es den Anschein macht.

Wie sehen Sie Ihre Rolle als Juror?
Klar ist, dass ich zwei Rollen werde einnehmen müssen: einmal die des Advokaten der von mir ausgewählten Texte und Autoren, andererseits aber auch die des anerkennenden Kritikers. Ich werde versuchen, beides mit Humor anzugehen, nicht mit bleiernem Ernst oder kulturkritischem Eifer.

Und was erwarten Sie von den Autoren?
In diesem Jahr sind einige „Hidden Champions“ unter den Lesenden, die man eigentlich auch jenseits des Betriebs kennen müsste – es wird spannend sein, zu sehen, wie sie sich im Vergleich zu den weitgehend „unbeschriebenen Blättern“ schlagen. Es gibt ja sehr viele sehr gute Autoren, die nicht zum Vorleser taugen. Ich hoffe also, dass alle Autorinnen und Autoren wissen, welches Set an Stoffen und Gefühlen ihren Texten innewohnt und wie sie vor allem letzteren beim Vorlesen Ausdruck verleihen können.

Wie gut kennen Sie eigentlich Ihre Mit-Juroren?
Man liest oder hört hier und dort von ihnen – seit einem halben Jahr fallen sie mir mehr auf, weil ich nach der Nomination durch den ORF ein wenig recherchiert habe. Nur mit Hildegard Keller arbeite ich schon seit Jahren zusammen. Sie ist Schirmherrin des „Treibhauses“, unseres reisenden Literatur-Nachwuchswettbewerb der Schweiz. Von ihr bekam ich auch den praktischsten Rat zur Vorbereitung auf die Tage der deutschsprachigen Literatur: „Miete rechtzeitig ein Fahrrad“, hat sie gesagt. Schon passiert – was soll jetzt noch schiefgehen?

Was lesen Sie, wenn Sie nicht gerade Bachmann-Einreichungen sichten?
Immer zwei oder drei Bücher parallel. Aktuell: „Auf der Suche nach Italien“ von David Gilmour, eine wunderbar unterhaltsame Landeskunde über das Werden unseres südlichen Nachbarstaates aus der Feder eines so kundigen wie frechen britischen Blaublüters. Dann: „Redefreiheit“ von Timothy Garton Ash, weil ich mit diesem phantastischen Historiker für den „Schweizer Monat“ ein langes Gespräch geführt habe. Und: „Alles, was ich am Strand gefunden habe“ von Cynan Jones, dessen Novellen „Graben“ und „Cove“ ich jedem, der auf packenden Prosa-Minimalismus steht, ans Herz legen will.