So, das waren jetzt alle Texte. Viele alte Männer, sehr viele Ich-Erzählungen, aktuelle Bezüge auf Flüchtlingsthemen (Dinic, Gardi, Sozio), viele Putzfrauen und auch ein bisschen Humor. Vor allem der sehr originelle "Ei"-Text von Sharon Dodua Otoo hat mit herrlich skurrilem Humor überzeugt. Sie gilt auch als heiße Anwärterin für einen der Preise. Außerdem sollten morgen auf der Shortlist stehen: Julia Wolf, Marko Dinić, Stefanie Sargnagel, Dieter Zwicky, Isabella Lehn.  Wer den Bachmann-Preis bekommt, wird ab 11 Uhr im Klagenfurter ORF-Theater ermittelt, 3sat überträgt wieder live.

Nicht vergessen! Abstimmen!

Zwischen 15 und 18 Uhr kann man für den BKS-Bank-Publikumspreis abstimmen. Anforderungen: E-Mail-Adresse und Begründung. Jede E-Mail-Adresse kann nur eine Stimme abgeben. Diese Stimme ist nur mit einer Begründung (max. 400 Zeichen) gültig. E-Mails an den Veranstalter werden nicht in die Wertung aufgenommen.

Wahlmöglichkeit: Über die Webseiten von 3sat, BKS und Musilmuseum.

Außerdem gibt es auch eine Abstimmung über den besten Juror, und zwar auf der Homepage www.literaturcafe.de.

Jurydiskussion

Meike Feßmann sieht in dem Schweizer Ingenieur einen Verkleinerungskünstler im Geiste von Robert Walser und Franz Kafka. Sie freut sich über diesen gelungenen Abschluss. Auch Klaus Kastberger ist angetan von diesem Text, auf die "grandiose Art und Weise, wie er mit einem viel zu kleinen Pinsel dieses großartige Los Alamos ausgemalt hat". Der Text habe einen doppelten Boden: "Ist das die Apokalypse oder nicht?"

Stefan Gmünder fand das alles "sehr nett", aber es hat ihn auf der Achterbahnfahrt auch ordentlich durchgeschüttelt. Sandra Kegel gibt gleich zu, dass sie nicht alles verstanden hat, aber gerade dadurch sei der Text auch sehr anregend gewesen. Er habe "wunderliche Bilder, Sinn werde immer wieder in Unsinn gewendet". Es sei ein gelungener Abschluss.

Juri Steiner freut sich offensichtlich, dass der Text so gut ankommt. Er hat Zwicky ja nominiert und findet hier einen Zauberkünstler, der Motive immer wieder dreht.

Als "Spaßverderber" bezeichnete sich Hubert Winkels, ihm fehlen "Plausibilitäten" und es hat keine "ihn hineinziehende Spannung gegeben". Steiner findet, man muss es nicht "so kompliziert" lesen, sondern einfach schauen, was Sprache in zwanzig Minuten bewirken kann.

Und nun die letzte Lesung: Dieter Zwicky

Dieter Zwicky
Dieter Zwicky © ORF

Dieter Zwicky wurde 1957 in Zürich geboren und lebt in Uster und Zürich. Er arbeitet u. a. als Korrektor. Im September erscheint "Hihi - Mein argentinischer Vater". Er ist bereits 2007 bei den "Tagen der deutschsprachigen Literatur" angetreten. Den Text mit dem Titel „Los Alamos ist winzig“ finden Sie hier.

Inhalt: Ein Ingenieur hat seine Zungenkrebserkrankung wohl überstanden, ist mit seiner Partnerin nach Los Alamos übersiedelt. Sie arbeitet, er trinkt Weißwein.

Bin ratlos. Was will der Text? Was will man mit Sätzen wie "eine feinfühlige Frau wie ich spürt jede pränatale Veränderung"? Hoffe auf Aufklärung durch die Jurydiskussion. Bin neugierig, ob sie so reagiert wie - siehe unten.

Ausstellung

Kurz zur Erinnerung und für alle, die es noch nicht wissen:
Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926-1973) und ihr Bruder, der Geophysiker Dr. Heinz Bachmann, standen einander sehr nahe. In Rom hat Heinz Bachmann im Jahr 1962, von der Schwester dazu animiert, eine umfangreiche Porträtserie der Schriftstellerin fotografiert. Nun ist ein größerer Teil dieser Serie erstmals im Robert-Musil-Literatur-Museum in Klagenfurt zu sehen, und zwar bis 25. November (geöffnet Mo. bis Fr. 10 bis 17 Uhr)

Ingeborg Bachmann, fotografiert von ihrem Bruder Heinz Bachmann
Ingeborg Bachmann, fotografiert von ihrem Bruder Heinz Bachmann © Heinz Bachmann

Astrid Sozio: Die Jurydiskussion

Und Hubert Winkels ergreift zum dritten Mal als Erster das Wort. Er findet, dass der Text fast "denuziantorische Aspekte in seine Grobgearbeitetheit" hat. Sandra Kegel findet in dem Text eine Rassismusstudie, der etwas zeigen will: nämlich, dass Rassismus erblich ist. Aber sie bezweifelt, dass man das alles einer Figur in die Schuhe schieben kann: "Der Text überzeugt mich nicht. Ich möchte diese Art der Kollaboration nicht." Hildegard Keller erinnert daran, dass hier "prekär auf prekär" trifft.

Meike Feßmann findet, dass die Autorin nicht die Mittel hat, diesen Text zu Literatur zu machen. Klaus Kastberger hat mitgezählt, wie oft Negerin vorgekommen ist: 13 Mal. Er weiß nicht genau, "wozu das gedient hat. Wenn das Wort eine Funktion hat, gehört es in den Text. Aber hier sehe ich die Funktion nicht". Hubert Winkels teilt das Urteil "naturgemäß".

Astrid Sozio

Astrid Sozio
Astrid Sozio © ORF

Als nächstes kommt Astrid Sozio. Sie wurde 1979 in Hagen geboren und lebt in Hamburg. Nach ihrer Buchhändlerlehre studierte sie Wirtschaftswissenschaften in Deutschland und Creative Writing in England. Sie arbeitete als Buchhalterin, Texterin und Schuhverkäuferin.

Der Text: Ihr Text heißt "Das verlassenste Land" und man kann ihn hier nachlesen. Raunen im Publikum: Wörter wie "Neger" und "Zigeuner" fallen. Interessant, ausgerechnet nach der Lesung von Otoo.

Ältere, vergessliche Frau wohnt in einem leeren Hotel und putzt Zimmer, die keiner braucht. Ein Mädchen aus Ghana bricht dort ein. Themen: Flüchtlinge, Vereinsamung, prekäre Verhältnisse, ziemlich trostlos.

pingeb.org

Die Texte der Bachmann-Autorinnen und Autoren gibt es auch via Internet-Portal pingeb.org. Dafür muss man nur das Smartphone auf einen der gelben Sticker im öffentlichen Raum legen - bzw. im ORF-Gelände tragen die Sticker das Logo der "Tage der deutschsprachigen Literatur" - und kann die Texte downloaden. Insgesamt gibt es 300 Sticker kärntenweit. Während der Tage der deutschsprachigen Literatur stehen alle Texte in Form von E-Books zum mobilen Abruf bereit – nicht nur in Klagenfurt, sondern auch an vielen Orten in Kärnten, in Salzburg und Vorarlberg.

Sharon Dodua Otoo: Die Diskussion

Hubert Winkels: "Was mir gefällt, ist die extreme mikroskopische Aufnahme einer bürgerlichen Szene, die dann vielleicht zu lange dauert". Aber dann kommt der Trick, aus dem Ei herauszuerzählen und öffne zwei Perspektiven: jene der Wiedergeburt und außerdem auf die Vorgeschichte auf die Beziehung.

Klaus Kastberger fand das einen schönen Text, vor allem mit dem schönsten "Oooooohhhhhh". Außerdem findet er Satire, Witz und Ironie und das Genre "Tischszene". Auch Hildegard E. Keller kann sich gar nicht vorstellen, dass man vergnügter und hinterhältiger von der Reinkarnation erzählen kann. Und freut sich über die verblüffende Lösung, dass einfach das Ei sich weigert, hart zu werden.

Stefan Gmünder findet den Kniff genial, eine reale Person (Überraschung: Herrn Gröttrup gab es wirklich) so zu Literatur werden zu lassen. Und weiter geht es mit Lob von Juri Steiner (der wusste ebenfalls einige reale biografische Daten beizutragne) und Meike Feßmann. Sie hatte aber auch einen Einwand gegen den Schluss, dass dieses "schönes Setting mit dem Putzfrauen-Motiv aufgelöst wird". Klaus Kastberger allerdings wollte das "hohe Lied der Dienstbotin" nicht missen. Also: ein beweglicher Text, ein wendungsreicher Text, ein Text mit Zauberkraft. Definitiv preisverdächtig!!!

Und nun: Sharon Dodua Otoo

Sharon Dodua Otoo
Sharon Dodua Otoo © ORF

Die Autorin wurde 1972 in London geboren. Sie "lebt, lacht und arbeitet" in Berlin (so eine Selbstdefinition). Ihre jüngste Novelle "Synchronicity"erschien 2014 auf Deutsch und 2015 auf Englisch. Sie liest auf Einladung von Sandra Kegel. Zu ihrem Text "Herr Gröttrup setzt sich hin" geht es hier.

Der Text: Und wieder: ein älterer Mann. Diesmal allerdings mit Frau. Ein Alltagsleben voller alltäglicher Dinge. Eier kochen, etwa. Frühstücken. Post hereinholen. Aha, zittrige Hände, starke Kontrolle. Erste Abgründe. Oh Gott, das Ei ist noch weich, Herr Gröttrup kann es nicht glauben.

Und das Ei kann es auch nicht glauben: Es wurde gekocht! Dabei wollte es doch nur im Kühlschrank chillen. Manchmal hat man aber auch Pech im Leben . . . 

Ada Dorian: Die Jury-Diskussion

"Heute werden wir begrüßt von einem Text, der sehr stark aufgeladen ist", meint Hubert Winkels. Ihn stört die "Überdeterminiertheit".  Stefan Gmünder fand den Text "sehr fein gearbeitet". Es sei ein Text über das Wachsen, der "wächst". "Das mit der Überdeterminiertheit sehe ich sehr ähnlich", stimmte er Hubert Winkels auch zu. Aber das habe ihn am Schluss "nicht mehr gestört".

Sandra Kegel: "Man könnte vielleicht sagen, dass der Text konstruiert ist wie ein Ikea-Regal."

Klaus Kastberger findet das einen "wunderschönen" Text, geschrieben in einer sehr schönen, korrekten Sprache. Es läge auch eine Melancholie über den Text, die Klaus Kastberger mag.

Eingeladen wurde die Autorin von Hildegard E. Keller. Für sie ist das eine Erzählung, in der eine kleine Welt konstruiert wird, in der die große Welt sich spiegele in zwei Schicksalen.

Juri Steiner findet den Schluss sehr gelungen, es gäbe keine Liebe und keine Wärme und niemand, der ihm die Hand halte beim Sterben. "Er will Birke, sie gibt ihm Ananas". Das ist eine hübsche Zusammenfassung für den Text.

Auch eine hübsche Zusammenfassung:

Ada Dorian

Ada Dorian macht heute den Anfang
Ada Dorian macht heute den Anfang © ORF

Und nun die erste Autorin im heutigen Lesereigen: Ada Dorian studierte Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Osnabrück. Anschließend lebte sie lange in Hamburg, mittlerweile in Osnabrück. Ihr Romandebüt erscheint 2017 im Ullstein Verlag.

Klaus Kastberger vergibt Platz 13 in seinem Ranking für erste Sätze.

Zum Inhalt: Der Text heißt "Betrunkene Bäume", nachlesen kann man ihn hier. Schön: Endlich einmal keine "Ich"-Perspektive. Vater-Tochter-Geschichte. Erich, der Vater, aus dem Krankenhaus retour, Tochter Irina kümmert sich um ihn. Erich will nicht in ein Pflegeheim, er will lieber einen Wald in seiner Wohnung pflanzen. Und schon werden auf Twitter erste Bezüge zum Text von Julia Wolf hergestellt.

Sehnsuchtsort in dem Text von Ada Dorian ist Sibirien - und zwar auch für das Mädchen Katharina, das von zu Hause ausgerissen ist. Denn der Vater ist nach Sibirien gegangen, um dort zu arbeiten.

Ups, Erich soll doch ins Pflegeheim, als Irina seine Baumsetzlinge findet. Doch dann stellt sich heraus: Irina ist gar nicht seine Tochter. Aber es gibt einen Sohn, Anton. Der wird wohl im weiteren Roman noch eine Rolle spielen. 

Übertragung

Los geht es mit der 3sat-Übertragung. Und Zita Bereuter macht auf den Publikumspreis aufmerksam. Heute kann man darüber abstimmen.

Und auch über die beste Jurorin/den besten Juror kann abgestimmt werden, und zwar via www.literaturcafe.de

Heute steht beim Wettlesen um den Bachmann-Preis der dritte und letzte Lesetag auf dem Programm. Vier Autoren stellen sich der siebenköpfigen Jury, bevor morgen die Preise vergeben werden.

Diese Autoren lesen heute:

Folgene Autoren lesen heute in Klagenfurt: Ada Dorian (10 Uhr), Sharon Dodua Otoo (11 Uhr), Astrid Sozio (12 Uhr) und Dieter Zwicky (13 Uhr).

Und das ist die Jury:

Den Juryvorsitz hat wieder Hubert Winkels, der seit 1988 Literaturkritiker für "Die Zeit ist". Klaus Kastberger (A) leitet das Grazer Literaturhaus, Sandra Kegel (D) ist Redakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Stefan Gmünder (A/CH) Literaturredakteur des "Standard". Mit dabei sind auch wieder Juri Steiner (CH), seit 2010 Mitglied Sternstunde Philosophie (Schweizer Fernsehen) und Meike Feßmann (D), die vor allem für die "Süddeutsche Zeitung" sowie den "Tagesspiegel" Literaturkritiken schreibt. Hildegard Keller (USA/CH) ist Professorin für deutsche Literatur an den Universitäten Bloomington Indiana/USA sowie Zürich.

Die sieben Juroren
Die sieben Juroren © Helmuth Weichselbraun