Die Eltern vertrauten dem Arzt, dass ihr noch ungeborenes Kind gesund sei, und freuten sich auf die Geburt ihrer Tochter. Doch dann der Schock: Das Mädchen kommt ohne linken Arm zur Welt. Auch der linke Brust- und Schulterbereich ist fehlgebildet und das Schlüsselbein verkürzt. Die verzweifelten Eltern fragten sich: Wie konnte der Gynäkologe diese Fehlbildung bei den Ultraschalluntersuchungen übersehen? Zweimal habe er sogar vermerkt, dass der Fötus beide Arme und Beine habe. Die Eltern klagten den Kärntner Facharzt. „Der Mediziner hatte die schwere Behinderung des Kindes übersehen. Die Eltern hätten sich bei korrekter Diagnose für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden“, sagt die Grazer Rechtsanwältin Karin Prutsch-Lang. Sie forderten vom Arzt Schadenersatz, insbesondere den gesamten Unterhaltsaufwand für das Kind, die Pflegekosten sowie die Behandlungs- und Therapiekosten, ebenso die Feststellung seiner Haftung für alle künftigen Schäden.

„Hätte schwere Behinderung erkennen müssen“

Der Fall ging bis zum Obersten Gerichtshof (OGH). Der Beklagte wandte ein, dass er, wenn überhaupt, höchstens für den behinderungsbedingten Unterhaltsmehrbedarf hafte. Der OGH gab der Revision des Gynäkologen nicht statt. In der Entscheidung heißt es, dass der „Pränataldiagnostiker bei gehöriger Aufmerksamkeit bereits beim Ersttrimester-Ultraschallscreening erkennen hätte können“, dass eine schwere körperliche Behinderung vorliege. Hätte er lege artis – also nach den Regeln der ärztlichen Kunst – gehandelt und die Eltern über die Behinderung ihres ungeborenen Kindes aufgeklärt, hätten diese sich für eine Abtreibung entschieden, heißt es. Die Höchstrichter betonen, dass es hier um das Recht der Eltern geht, autonom darüber zu entscheiden, ob sie erstens ein Kind wollen und zweitens, ob sie angesichts ihrer Lebenssituation bereit sind und sich in der Lage sehen, ein behindertes Kind entsprechend seinen Bedürfnissen aufzuziehen.

Rechtsanwältin Karin Prutsch-Lang hat die Eltern vertreten
Rechtsanwältin Karin Prutsch-Lang hat die Eltern vertreten © KK

Das Gericht ging von der bisherigen Judikatur ab und traf eine wegweisende Entscheidung: Es darf keine Unterscheidung mehr zwischen der ungewollten Geburt gesunder und behinderter Kinder geben. Aus schadenersatzrechtlicher Sicht sind beide Sachverhalte gleich zu beurteilen. „Der OGH bestätigt, dass Ärzte für den vollen Unterhaltsaufwand des Kindes haften, unabhängig von dessen Gesundheitszustand, wenn die Geburt durch fachgerechte Aufklärung oder Behandlung hätte verhindert werden können“, sagt Prutsch-Lang.

Der Gynäkologe, der in Kärnten eine Wahlarztpraxis betreibt und in einem Krankenhaus beschäftigt ist, muss jetzt den gesamten Unterhaltsaufwand für das Kind bezahlen. Bislang wurde er zur Zahlung von rund 76.500 Euro verpflichtet. „Es werden in Zukunft noch weitere Ansprüche in der Höhe von mehreren Hunderttausend Euro für die Eltern des behinderten Kindes geltend gemacht werden“, sagt Prutsch-Lang. „Dieses Urteil könnte weitreichende Auswirkungen auf die medizinische Praxis und Patientenrechte haben.“