Seit 1999 ist der Kosovo ein Krisenherd. Jüngste Provokationen, die Nummernschildkrise, Explosionen, Schüsse auf Zivilisten, ließen den Konflikt an der Grenze zu Serbien erneut aufflammen. Streitschlichter ist die EU, die vorrangig Druck auf Serbien ausübt. Wie lange kann das gut gehen?
FLORIAN BIEBER: Die Rolle der EU als Streitschlichter ist nur logisch. Das hat sich seit 2011 nicht verändert. Anders sieht es mit dem Image aus. Die EU ist am Balkan weniger attraktiv und vor allem weniger real geworden. Das bringt Herausforderungen mit sich. Die Möglichkeiten, auch weiterhin erfolgreich zu verhandeln, sind stark eingeschränkt.
Trotzdem streben beide Länder eine EU-Mitgliedschaft an.
Ja, das Versprechen hat die EU an beide Länder abgegeben.

Steigt mit dem schlechten Image der EU nicht die Gefahr eines bewaffneten Konflikts?
Das halte ich für unwahrscheinlich. Noch sorgt die KFOR-Mission der Nato für die Sicherheit am Kosovo. Zu einer Eskalation könnte es nur dann kommen, wenn Serbien die Grenzen überschreitet, und das würde bedeuten, Serbien riskiert eine Eskalation mit der Nato.

Die Pressekonferenz von Bundeskanzler Nehammer mit dem kosovarischen Premier Albin Kurti, live ab 13.25 Uhr:

Hängt der Krieg in der Ukraine mit dem Konflikt am Balkan zusammen?
Der Ukraine-Krieg und die Weigerung Serbiens, sich gegen Russland zu stellen, haben zur Verschärfung beigetragen. Serbien hat sich in den letzten Monaten stark vom Westen entfremdet. Auch wenn Russland selbst kaum einen Einfluss auf die Spannungen im Kosovo hat, aber sehr wohl davon profitiert.

Inwiefern?
Was Russland will, ist am Balkan den größtmöglichen Schaden mit dem geringsten Aufwand anzurichten. Wladimir Putin geht es darum, den Westen bloßzustellen und seine Interessen zu blockieren. Denn jeder Erfolg des Westens ist ein Misserfolg für Russland und umgekehrt.

Es geht also um ein Kräftemessen der Großmächte.
Im Prinzip ja. Russland nutzt den Balkan nur opportunistisch aus. Ohne Ziel, ohne bestimmte Intentionen, bis auf die, den Westen zu schwächen.

Mit Erfolg?
Aleksandar Vučić freut sich über den Status quo, dass es keine Lösung für den Kosovo gibt, und sitzt gerne zwischen den Stühlen. So kann er von anderen Problemen in Serbien ablenken. Noch funktioniert es, die EU ist geduldig und spielt mit. Das hat aber auch den Grund, dass die EU selbst keine einheitliche Linie hat. Fünf von 27 EU-Staaten haben den Kosovo nicht als unabhängigen Staat anerkannt. Stärker wäre der Einfluss der EU nur dann, wenn sie den Kosovo einheitlich anerkennen würde.

Zielt Vučić erneut auf die Spaltung Kosovos ab oder will er noch mehr?

Es ist schwer, ein klares Ziel zu erkennen. Er würde sich die Teilung des Kosovos wünschen. Für den Kosovo wäre das nur aber dann denkbar, wenn sich die mehrheitlich albanischen Gemeinden in Serbien dafür dem Kosovo anschließen, was wiederum für Serbien ein Tabu ist. Sogar die EU hat zeitweise Verhandlungen über Gebietsänderungen toleriert, bis einige Mitgliedstaaten dem einen Riegel vorgeschoben haben. Eine Grenzverschiebung ist heute noch unrealistischer als noch vor einem Jahr, da es einen gefährlichen Präzedenzfall, auch für die Ukraine, bedeuten würde. Vučić geht es um sein politisches Überleben. Einen Masterplan hat er nicht.

Kann die EU den Krisenherd Kosovo überhaupt ganz abdrehen?
Möglich ist vieles, das geht aber über die politischen Fragen hinaus. Es braucht eine kritische Auseinandersetzung in der Gesellschaft und einen breiten Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo. Angefangen mit einer Aufarbeitung der 1990er-Jahre, die nie wirklich stattgefunden hat. Das würde die Sprengkraft reduzieren.