"Erste Reihe fußfrei bei einem tragikomischen Lehrstück für die zersetzende Kraft des Populismus – „das ist gruselig, faszinierend, aber nichts für schwache Nerven“ – so hat Christian Kesberg seinen Blick auf „Brexitannien“ in der Kleinen Zeitung einmal selbst beschrieben.

Nur wenige Monate, nachdem der gebürtige Kärntner 2016 zum neuen österreichischen Wirtschaftsdelegierten im Vereinigten Königreich bestellt worden war, geschah das vermeintlich Undenkbare: Im Juni 2016 stimmten die Briten mit 51,89 Prozent für den Austritt der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas aus der EU.

Heuer im August endet Kesbergs Auslandseinsatz in London. Der dann 64-Jährige war zuvor – seit 1984 – als „Brückenbauer zwischen Markt und Unternehmer“ für Österreichs Außenhandel in Kuwait, Los Angeles, New York und Seoul tätig. Der Kosmopolit, der 1982 seinen Doktor in Rechtswissenschaften an der Grazer Uni gemacht hat, lebte bisher nie mehr als sieben Jahre an einem Ort. Die Zeit in Großbritannien war stark und ist stark von den Irrungen und Wirrungen rund um den Brexit geprägt, der – nach quälend zähen Verhandlungsorgien – schließlich mit 31. Jänner 2020 über die Bühne ging, sich also dieser Tage zum dritten Mal jährt.

„Albtraum“, „düster“ und „miserabel“

„Feiertagsstimmung“ mag in Großbritannien derzeit freilich nicht aufkommen, nicht einmal bei vielen Austrittseuphorikern vulgo „Brexiteers“ von einst. Von der Insel dröhnten zuletzt serienweise ökonomische Schauermeldungen. Polit-Beben, nicht enden wollende Streikwellen, Proteste, Dauer-Gesundheitskrise – britische Wirtschaftsmedien veröffentlichten jüngst Umfragen, in der die gegenwärtige wirtschaftliche Konstitution Großbritanniens von Ökonomen mit Zuschreibungen wie „Albtraum“, „düster“ und „miserabel“ versehen wurde.

„Medienberichte neigen zwar immer zu einer plakativeren Sichtweise, das Land steht nicht vor dem Abgrund – aber ja, es ist schlimmer als in vielen anderen Staaten“, berichtet auch Kesberg und wählt das Bild eines Sandwiches für seinen Zustandsbefund. In der Mitte kämpfe Großbritannien mit jenen „vertrauten“ Herausforderungen, mit denen weltweit derzeit die meisten Wirtschaftsräume zu kämpfen haben – also vor allem Inflation, Reallohnverluste, Energiekrise, drohende Rezession. „Aber obendrauf kommen die verschleppten Grundprobleme, wie die schlechte Infrastruktur, das chronisch unterfinanzierte Gesundheitssystem, ein Raumplanungschaos.“ Und, Stichwort Sandwich, „unten drunter belasten die Brexit-Nachwehen“. Diese entfalten sich nun, knapp drei Jahre nach dem Austritt, immer stärker. Die Kriegs- und Pandemiefolgen werden dadurch noch weiter verstärkt, „eine Dreifachkeule für die britische Wirtschaft“, wie es Kesberg ausdrückt, der auf „fast fünf Prozent verlorenes Wirtschaftswachstum seit 2016“ verweist. Es sei alles eingetreten, wovor gewarnt wurde: „Die Auslandsinvestitionen in Großbritannien sind eingebrochen, die Exporte in die EU ebenfalls.“

Ein kleines Pflänzchen, ein zarter Lichtblick

Verlässliche Umfragen würden mittlerweile zeigen, dass fast 60 Prozent der Briten den Brexit nicht mehr für richtig halten. „Die Idee, dass man das wieder rückgängig macht und die Briten reumütig in den Schoß der EU zurückkehren, ist freilich bizarr. Das sehe ich nicht einmal in der DNA der Hardcore-EU-Fans“. Ein kleines Pflänzchen der Annäherung ortet Kesberg indes rund um das einst „seicht formulierte und hastig unter hohem politischen Druck verhandelte Abkommen mit der EU“. Hier gebe es die Notwendigkeiten von Reparaturen und Verbesserungen, vom Nordirland-Protokoll über das EU-Forschungsprogramm Horizon, also den Wissens- und Technologietransfer, bis hin zur Dienstleistungsfreiheit, nennt Kesberg nur einige Beispiele. Im nun jahrelang kultivierten Friktionsgeflecht zwischen der EU und Großbritannien habe sich zuletzt zumindest „der Ton geändert“. Doch was macht die Tristesse mit dem kollektiven Selbstbewusstsein des stolzen britischen Königreichs? „Natürlich nagt das“, so Kesberg. Die Aufwallungen rund um die Royals, Stichwort „Enthüllungs-Biografie“ von Harry, reiht er indes in die Kategorie „Ablenkungskur“ ein. „Ablenkung von den echten Problemen wie der zunehmenden Zersetzung des politischen Systems, da fasziniert man sich lieber an etwas eigentlich völlig Irrelevantem.“

Erfolgreiche Nischenstrategien österreichischer Firmen

Für österreichische Unternehmen, immerhin sind 250 mit eigenen Niederlassungen in Großbritannien vertreten, sei 2022 „trotz trüber Großwetterlage gar nicht schlecht gelaufen, insbesondere für die traditionell krisenresistenten österreichischen Nischenspieler“. Mehr als die Hälfte der Firmen verzeichnete ein Umsatzplus, knapp 50 Prozent haben zusätzliche Mitarbeiter eingestellt und mehr als ein Drittel hat investiert. Auch für das britische Rezessionsjahr 2023 „sehen die Unternehmen trotz pessimistischer Gesamtperspektiven ihre eigenen Aussichten überraschend zuversichtlich“, so Kesberg. Sein Fazit: „Nischenstrategien entkoppeln Unternehmensergebnisse von der Konjunkturflaute.“ Folgenlos bleibt die Krisenkulisse dennoch nicht. Das „Neugeschäft“ lahmt, Markteintritte österreichischer Firmen in Großbritannien gebe es nicht mehr in früherem Ausmaß. Dafür, dass seinem Team im Außenwirtschaftscenter in London die Arbeit dennoch nicht ausgeht, sorge indes wiederum die Post-Brexit-Phase, „die Auslastung ist so groß wie nie zuvor, weil wir nach wie vor mit Krisenmanagement und der notwendigen Schadensbegrenzung zu tun haben.“

Christian Kesberg
Christian Kesberg © (c) Michael Gray