Es ist ein gigantischer Pilotversuch, von dem völlig offen ist, ob er gelingt. Und selten ist ein Beschluss der Frankfurter Euro-Hüter mit so großer Spannung erwartet worden wie an diesem Donnerstag Nachmittag. Jetzt liegen die Zahlen des lange anvisierten Anleihe-Kaufprogramms auf dem Tisch.
Diese Summen sprengen freilich jedes Vorstellungsvermögen: 1 Billion und 140 Milliarden Euro druckt und drückt die Zentralbank in die Wirtschaft. Monatlich 60 Milliarden Euro – 19 Monate lang. Rein rechnerisch ergibt sich so eine Summe von 3380 Euro für jeden Einwohner der Eurozone, vom Säugling bis zum Greis. Die enorme Summe entspricht in etwa zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Euroraums.
Das Ziel dieser jüngsten Premiere in einer Reihe von ungewöhnlichen geldpolitischen Maßnahmen seit Ausbruch der Euro-Krise ist das Überwinden der lahmen Wirtschaftsentwicklung in weiten Teilen des Euro-Raums, das Abwenden einer sich über längere Zeit festsetzenden Rezession inklusive einer möglichen Deflation mit anhaltend sinkenden Preisen. Preisstabilität und eine geringe Inflation von zwei Prozent zu sichern, das war immer die Top-Priorität der EZB.
Wie funktioniert so ein Kaufprogramm: Die EZB kauft Banken und Fonds Staatsanleihen ab, die sollen dafür Geld in Form von Krediten in die Realwirtschaft pumpen und damit die Wirtschaft ankurbeln – so die große Hoffnung.
Überfällig oder gefährlich?
Ob die Anleihekäufe tatsächlich im gewünschten Sinne wirken oder dann doch die unerwünschten Nebenwirkungen überwiegen, darüber streiten sich die Ökonomen und die EZB-Vertreter bereits seit Wochen.
Für den Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, Karl Aiginger, war der Schritt der EZB längst „überfällig“, die schlimmste Wirkung könne maximal dahin gehen, dass das Programm eben nicht oder kaum etwas bringe. Der Chefvolkswirt der Raiffeisen Bank-International, Peter Brezinschek, hält das Programm dagegen für kontraproduktiv: „Ein Hinhalteprogramm, das dringende Reformen in den Problemländern verhindert.“ Viele Ökonomen schließen sich diesem Befund an – warum sollte die Politik rigide und bei den Wählern unpopuläre Reformen in Euro-Ländern umsetzen, wenn am Ende ohnehin die EZB mit ihrer Notenpresse einspringt.
Zumindest wurde gestern niemand kalt erwischt. Die EZB hatte die Märkte über Monate auf den Tag X vorbereitet. Wie viele Anleihen die EZB von jedem Euro-Land kauft, ist abhängig vom Landesanteil am EZB-Kapital. Es werden also vor allem deutsche Bundesanleihen sein, gefolgt von französischen und italienischen. Mit einem Drittel des frischen Geldes werden auch andere Wertpapiere wie etwa Unternehmensanleihen gekauft.
Unbestritten ist: Die Anleihenkäufe drücken noch stärker die Zinsen, die Staaten fürs Geldborgen zahlen müssen. Alte, „teurere“ Staatsschulden mit höheren Zinsen können gegen neue, jetzt eben superbillige getauscht werden. Aiginger glaubt an eine ähnlich Konjunktur fördernde Wirkung wie beim erfolgreichen Anleihekaufprogramm der USA, „wenn in nächsten Schritten auch Unternehmensinvestitionen stimuliert werden und die Reallöhne steigen,“ so Aiginger.
Der Reformdruck auf die Länder müsse durch andere Regeln sichergestellt werden. Die noch größere Menge billigen Geldes werde nur zu Spekulationsblasen auf den Finanzmärkten führen, hält Brezinschek dagegen.
Eine Folge sei eine weitere Geldumverteilung Richtung Vermögender, „während die Sparer nur noch länger enteignet werden.“ Bei den Banken würden die riskanter agierenden Investmentbanken belohnt, die Universalbanken bestraft, was sehr gefährlich sei.
Wo die EZB diese enorme Menge an Anleihen überhaupt her bekommen wolle, könne er auch nicht nachvollziehen. Banken hätten wenig Interesse an Abtauschen, wenn sie dann für geparktes Geld bei der EZB Strafzinsen zahlen müssten. Wie sich diese gravierende Maßnahme der EZB tatsächlich auswirkt, werde sich erst längerfristig weisen – zumindest in dieser Einschätzung sind sich Ökonomen einig. Die Geldflut der EZB wird auch dazu führen wird, dass der Euro im Vergleich zu anderen Währungen weiter abwertet. Zum Dollar fiel er gestern auf den tiefsten Stand seit elf Jahren.
CLAUDIA HAASE,
MANFRED NEUPER