Shou Zi Chew ist Singapurer. Und bedacht darauf, den chinesischen Konzern ByteDance möglichst international darzustellen. Zumindest in seiner Befragung vor einem US-Kongressausschuss im März 2023. „Knapp 60 Prozent des Unternehmens“, sagt Shou dort, würden „globalen Investoren gehören“. Solchen wie den US-Fonds „Blackrock oder General Atlantic“, ergänzt er durchwegs süffisant. 20 Prozent gehörten den Mitarbeitern, auch darunter „tausende US-Bürger“, sagt Shou. Die restlichen 20 Prozent seien im Eigentum der Gründer.

Shou Zi Chew ist nicht nur Singapurer. Er ist auch Chef von TikTok, dem Onlinenetzwerk, das weltweit mittlerweile von 1,6 Milliarden Menschen verwendet wird, zu ByteDance gehört und dieser Tage wieder einmal großes Gesprächsthema ist. In den USA unterschrieb Joe Biden ein Gesetz, das den Zwangsverkauf TikToks vorsieht, die Europäische Kommission warf dem Unternehmen recht unverblümt vor, mit neuen Funktionen Jugendliche in die Sucht zu stürzen. Während die USA TikTok als Instrument für Spionage oder Propaganda, als Gefahr für die Demokratie, sehen, sorgt sich die EU also primär um unser aller Wohlbefinden.

TikTok-Chef Shou Zi Chew muss nicht nur der US-Politik immer wieder Rede und Antwort stehen. Mark Zuckerberg (rechts) startete 2018 einen TikTok-Konkurrenten, den er 2020 wieder einstellte
TikTok-Chef Shou Zi Chew muss nicht nur der US-Politik immer wieder Rede und Antwort stehen. Mark Zuckerberg (rechts) startete 2018 einen TikTok-Konkurrenten, den er 2020 wieder einstellte © AP

Klar ist: Der Algorithmus, an dem sich das politische Europa zunehmend stößt, ist der effektivste der Social-Media-Welt. Eine Stunde täglich, in manch Erhebung ist auch von eineinhalb Stunden die Rede, fesselt er Nutzerinnen und Nutzer ans Smartphone. Wie er genau funktioniert, ist unklar. Offensichtlich ist, dass er nur wenig Futter braucht, um erfolgreich zu sein. Schon geringes Interagieren mit den Inhalten in der TikTok-App führt dazu, dass man als Benutzer nach ein paar Sekunden Videos en masse reingespült bekommt, die auf das zuvor Betrachtete abzielen.

Sei es Unterhaltung, nützliche Information oder vollends wirrer Inhalt – nahezu alles ist erlaubt auf der Kurzvideoplattform und vieles davon ist enorm erfolgreich. TikTok-Trends und -Hypes prägen regelmäßig, dank riesiger Reichweiten, die Populärkultur dieser Tage. Ein Beispiel: Das simple Video eines Tellers mit Erdbeeren und Schokosoße, gepostet von der TikTokerin @pr4yforgabs, verzeichnete satte 456 Millionen Aufrufe. Die Userin Leah Halton konnte das gar noch toppen: Ein Video, in dem sie sich nur selbst im Auto filmt, schaffte 765 Millionen Aufrufe. Zum Vergleich: In allen Ländern Europas leben in Summe 746,4 Millionen Menschen.

Aber wie kam es eigentlich dazu? Wie konnte TikTok derlei viele Menschen so plötzlich ins eigene Universum holen und zu einem weltweiten Machtfaktor werden? Um den Ursprung zu finden, muss man eine Zeitlang zurückreisen. Und zwar ins Peking des Jahres 2012. Dort entscheidet sich der damals 29-jährige Zhang Yiming eine App zu entwickeln, die ihm aus unterschiedlichsten Medienportalen geeignete Artikel zusammenfischt. Was geeignet, also bestmöglich auf die Bedürfnisse Zhangs zugeschnitten ist, entscheidet ein Computeralgorithmus. Das Besondere an diesem: Er ist nicht starr, sondern lernt. Liest Zhang einen Artikel längere Zeit, wird er höher gewichtet und in den künftigen Tagen tauchen vermehrt ähnliche Geschichten auf. Die Säulen jener Methode also, die TikTok später so besonders machen wird.

Douyin für China, TikTok für die Welt

Aber bis dahin vergeht noch viel Zeit. Zhang Yiming jedenfalls streicht mit seiner News-App Toutiao, „Schlagzeilen“, bald erste Erfolge ein und gründet den heutigen TikTok-Mutterkonzern ByteDance. 2016 aber, Kurzvideos beginnen schön langsam das WWW zu fluten, ruft Zhang vorerst das Portal Douyin ins Leben. Das Kofferwort kombiniert „dou“ (vibrieren) und „yin“ (Ton) und macht die vibrierende Musiknote als Logo salonfähig, die heute auf Smartphone-Bildschirmen weltweit zum Inventar zählt.

Nach anfänglicher Fadesse nimmt auch Douyin an Fahrt auf. Zaubertricks, Schminktipps, die schnellsten Rezepte. Es ist ein Amalgam aus Alltäglichem und Kuriosem, das die Nutzerzahlen in China steigen lässt. Zugleich wird die Lage für Zhang Yiming komplizierter. In China herrscht Zensur – und Zhang kann ob der schieren Anzahl an hochgeladenen Videos diese kaum noch garantieren. Deswegen teilt der findige Unternehmer 2016 die Applikation. Douyin bleibt ausschließlich chinesisch, inklusive einer eigenen Kategorie für Lobpreisungen an Partei und Land. Für den Rest der Welt baut Zhang TikTok, das wiederum bis heute in China verboten ist. Kritiker werden an dieser Stelle schnell anmerken, dass die Apps zwar andere sind, aber technisch noch immer vieles eng verwoben ist. So ist nicht nur das Logo dasselbe, sondern dem Vernehmen nach auch zentrale Entwicklerteams, die neue Funktionen in die Anwendungen einpflegen.

Der finale Schritt gen Westen gelingt TikTok übrigens erst 2018. Satte 800 Millionen US-Dollar nimmt ByteDance da in die Hand, um Musical.ly – und die damals schon 280 Millionen Nutzerinnen und Nutzer des lieblichen Mitsing-Netzwerks – zu kaufen. Eine Fusion übrigens, an der sich vor sechs Jahren kaum jemand stieß. An ernst zu nehmende Konkurrenz aus China glaubte damals in Europa niemand. Auch im Silicon Valley sah man TikTok als Randnotiz, maximal als Strohfeuer. Nur Mark Zuckerberg hatte eine Vorahnung. 2018 startet Facebook die Video-App Lasso, eng angelehnt an TikTok. Zwei Jahre später drehte Zuckerberg die App wieder ab. Die Kopie war gescheitert.