Den Leechwald erreicht man von der Straßenbahnhaltestelle Hilmteich; dort ist der Grazer Menschenrechtsweg. Für Jugendliche größtenteils unbekannt und für viele Erwachsene in Vergessenheit geraten, sind die Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auf einander folgenden Tafeln im Grünen zu lesen. Im Jahr 2001 hatte sich die Stadt Graz zur ersten Europäischen Menschenrechtsstadt erklärt; sechs Jahre später hat die Kulturvermittlung Steiermark den Menschenrechtsweg realisiert, um das öffentliche Bewusstsein für dieses gewaltige historische Dokument, das aus der Vernichtung menschlichen Lebens und menschlicher Würde im Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, zu schärfen. Es lohnt sich, einen kurzen Ausflug zu unternehmen und sich nochmals mit dem Wortlaut dieses Dokuments vertraut zu machen, denn seit Mai 2023 ist die Installation in frisch restaurierter Form zu erleben. Und man liest die einzelnen Abschnitte tatsächlich anders – konzentrierter, intensiver – in einer von digitaler Ablenkung freien, grünen Umgebung.

Im Jahr 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet, schreiben die Grundrechte vor, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Freiheit, Leben und Sicherheit ihrer Person haben, „ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen“, wie es im Artikel 2 steht. Artikel 5: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“. Artikel 7 behandelt die Gleichheit vor dem Gesetz, Artikel 11 die Unschuldsvermutung.

Die Menschenrechte, in 30 umfassenden Artikeln verfasst, sollten eigentlich als Selbstverständlichkeit gelten, aber kennen wir sie überhaupt noch? Liest man sie durch, fragt man sich, ob sie jemals ohne ein „Aber“ wahrgenommen werden. Alle Menschen sind frei und gleich – aber. Schutz der Freiheitssphäre des Einzelnen – aber. Eigentumsgarantie, Recht auf Bildung, auf Arbeit, auf soziale Sicherheit – aber, usw. Wer entscheidet über dieses „Aber“? Fest steht: Wenn sie nicht für alle Menschen gelten, wenn sie nicht als universell und ohne „aber“ verstanden werden, verlieren die Menschenrechte ihre Bedeutung. 

Ich öffne den Laptop und mache das E-Mail-Programm auf. In einem Newsletter lese ich eine Überschrift, die auf die Einkesselung von Khan Younis im Gaza verweist. Darüber steht ein Foto, auf dem ein israelischer Soldat etwas an seiner Waffe einstellt. Im Hintergrund sind rosa gefärbte Wände mit Einschusslöchern zu sehen, bröckelndes Mauerwerk, ein Fenster. Rechts daneben steht ein Schrank. Eine Tür ist offen, es liegen dort sorgfältig zusammengefaltete Kleidungsstücke, einige davon sind rosa, Mädchenklamotten eben. Hinter dem Soldaten hängt ein gesprungener Spiegel, geschmückt, wie der Kleiderschrank, mit rosafarbenen Streifen und einem silbernen Blumenornament. In den verbliebenen Scherben des Spiegels kann man gerade noch ein Bett und eine auf dem Rücken liegende Puppe ausmachen.

Lebt das Mädchen noch, frage ich mich, ist es geflohen und wohin, und wie kann es sein, dass die Zeitung ein solches Foto verwendet – ein Soldat in einem rosaroten Mädchenzimmer – ohne die Abwesenheit dieses Mädchens, ohne die liegengebliebene Puppe als Hauptthema wahrzunehmen? In diesem Bild kommt das Mädchen, diese junge Frau, nicht nur nicht vor – sie existiert nicht einmal, wurde ausradiert, ist in dem „Aber“, das unweigerlich auf die Proklamation ihrer Grundrechte gefolgt ist, kommentarlos verschwunden.