Die Saison geht in einer Woche los, alles redet vom fünften Gesamtsieg in Serie. Realistisch?

MARCEL HIRSCHER: Es ist unwahrscheinlich, zum fünften Mal zu gewinnen. Planen kann man den Gesamtweltcup aber ohnehin nicht. Man kann nur daran arbeiten, überall gut zu sein, seine Leistung zu bringen.

Jetzt beginnt die Zeit mit vielen Terminen abseits der Pisten. Vermisst man da nicht gleich wieder den Sommer?
HIRSCHER: Nein, man wird ja auch diesbezüglich routinierter. Man macht es einfach und hofft, dass es passt. Es gibt aber Tage, da ist man froh, wenn sie vorbei sind.

Und die vielen Interviews? Langweilen die nicht?
HIRSCHER: Nein, weil ich ja vorher die Gespräche nicht kenne. Und es gibt ja zum Glück immer neue Fragen.

Die oft ins Private gehen. Wo liegt Ihre Grenze?
HIRSCHER: Hier bin ich beruflich, beim Training, beim Rennen auch. Es ist wie bei jedem anderen: Wenn man daheim die Tür zumacht, dann ist es privat. Wenn es Kinder, Familie, Freundin, Wohnen betrifft, dann ist es privat. Das wäre halt wünschenswert.

Und doch kommt das Hamsterrad jede Saison wieder. Gibt es eine Strategie, sich dagegen zu behaupten?
HIRSCHER: (lange Pause). Interessante Frage. Aber Antwort gibt es keine. Weil mir das zu privat ist. Wie sagt man: Helden haben keine Schwächen.

Aber Sie dachten daran, alles hinzuschmeißen. Lag das am Skifahren? Oder an den Folgeerscheinungen des Erfolgs?
HIRSCHER: Nur an den Folgeerscheinungen. Skifahren könnte ich jeden Tag.

Obwohl Sie nie einfach nur zum Genuss Skifahren dürfen, wie Sie sagten?
HIRSCHER: Ganz so stimmt es nicht. Aber sobald ich auf Ski stehe, habe ich eingeschliffene Grundsätze, die ich nicht ausblenden kann, stimmt.

Nämlich?
HIRSCHER: Ganz einfach: Das Becken muss zum Hang, der Außenski ist der Chef. Das klingt einfach. Das Problem ist, dass die Fliehkraft dir oft das Gegenteil aufzwingen will.

Womit wir beim Zwang sind. Sie gelten als sehr strukturiert, bis hin zum Schlaf, der genau getimt ist. Stimmt der Eindruck?
HIRSCHER: Wenn es um etwas geht, dann ja. Du musst dir ein System aneignen. Wenn du einmal den Innenschuh vergessen hast, bereust du das bitter, weil du dann barfuß im Schuh stehst. Das tut weh. Also denkst du über Packschemen nach, über Rituale. Helm, Brillen, Handschuhe, Skischuhe, Innenschuhe – das geht wie das ABC. Am Vortag wird alles hergerichtet, fast bis zur Zahnpasta auf die Zahnbürste.

Und wie kochen Sie? Nach Rezept oder nach Laune?
HIRSCHER: Kommt darauf an. Würde ich Sie einladen, dann würde ich alles nach Rezept machen, alles muss Mise en place sein. Und dann geht alles nur Bam-Bam-Bam.

Jetzt sind wir im Privaten gelandet. Früher haben Sie öfter Theater gespielt, sagten Sie, jetzt nicht mehr. Warum?
HIRSCHER: Es ist halt immer eine Gratwanderung, wie viel Persönliches man hergibt. Mein Motto ist jetzt: Die Wahrheit ist leichter als der Schein.

Was wie zu verstehen ist?
HIRSCHER: Ganz klar: Wenn jemand auf mich zeigt und mich wegen einer Aussage kritisiert, ist die Wahrheit für mich leichter verkraftbar, als ich hätte etwas nur gesagt, um die „Figur Hirscher“ darzustellen.

War das der Grund, warum Sie sich in der Flüchtlingsfrage als einer der Ersten öffentlich deklariert haben?
HIRSCHER: Mir war das wichtig. Ich habe Postings gelesen, wo ich nur dachte: krass. Richtig krass. Da haben viele nicht verstanden, worum es geht.

Nämlich?
HIRSCHER: Sich eine Minute Zeit zu nehmen, nachzudenken, was es bedeutet, wenn man selbst sein ganzes Klumpert packen müsste, alles zurücklässt, die Familie dort lässt und geht. Einen weiten, gefährlichen Weg. Da sollte man überlegen, ob man den gleichen Scheiß noch einmal postet.

Und die Reaktion?
HIRSCHER: Mir war bewusst, dass, wenn ich auf diesem Achttausender stehe, viel Wind von der Südseite kommen wird – und genauso viel von der Nordseite. Aber es geht um Menschen, um Menschlichkeit und Mitgefühl. Ich weiß auch nicht, wie man das Problem lösen, am besten helfen kann. Aber man kann den Menschen, die am wenigsten dafür können, doch nicht mit so viel Verachtung gegenüber treten.

Es zeigt aber auch, dass Sie als Person Dinge steuern können – via soziale Medien. Ist Ihnen klar, dass Sie Macht haben?
HIRSCHER: Ich brauche keine Macht.

Sie stehen unter ständiger Beobachtung. Keine Ruhe beim Autofahren, beim Essen. Gibt es da Auswege?
HIRSCHER: Das sind wirklich interessante Fragen. Da könnten wir fachsimpeln – Ende nie! Aber in Wahrheit kann ich nicht sagen, dass es am Limit ist, dass ich nur versuche, es irgendwie zu handeln.

Warum denn nicht?
HIRSCHER: Weil die Leute dann sagen: Dann soll er es lassen, wenn er das nicht mag. Aber das will ich nicht, weil Skifahren halt das Geilste ist.

Was ist das Problem?
HIRSCHER: Beispiel: Vor einem oder bei einem Rennen. Ein Fan hat die seiner Meinung nach einzige Chance, nahe an mich heran zu kommen. Will reden, Fotos machen. Er versteht nicht, dass mir das vielleicht gerade völlig Banane ist, weil ich gerade nur schnell Ski fahren will.

Und was machen Sie?
HIRSCHER: Ich versuche eben, alles zu handeln. Damit der Fan nicht böse ist, der Sponsorpartner nicht böse ist, die Medien nicht böse sind und ich auch nicht auf mich selbst. Du tust alles, damit das ganze Gefüge sich immer dreht und dreht, nichts ins Stocken kommt. Es geht schließlich darum, schnell Ski zu fahren.

Und die Karriere ohne Skandale zu beenden?
HIRSCHER: Geh bitte. Ich hab ein 200.000-Euro-Auto gegen einen Baum gefahren. Wenn auch mit erlaubter Geschwindigkeit und Eigenverschulden. Aber das reicht.

Zurück zum Sport. Ihr Motto ist, Grenzen auszuloten. Gibt es noch Spielraum?
HIRSCHER: Immer. Wenn ich glauben würde, dass ich meinen Plafond erreicht hätte, müsste ich das Leiberl ausziehen und sagen: Danke, schön war’s. Es wäre der erste Tag, an dem die Entwicklung rückwärtsgeht.

In einem Interview sagten Sie auf die Frage nach Österreich: ,Do bin i her, da ghör i hin‘. Aber für Österreich gilt das „Hätti-Wari“ als typisch. Davor haben Sie doch panische Angst, oder?
HIRSCHER: Ich kann nur versuchen, das „Hätti-Wari-Tati“ für mich möglichst wegzulassen, mich auch nicht damit ärgern zu lassen. Aber es zu kritisieren, steht mir nicht zu. Ich will ja nicht den großen Weltveränderer spielen.

Eines hat sich auch nicht geändert – Sie fühlen sich selbst noch nicht ganz bereit für Sölden. Sind Sie beunruhigt?
HIRSCHER: Ich kann mich nur an die Fakten halten: Im Training sind andere schneller. Aber erstens haben wir alles getan, zweitens war das immer so und drittens hat es trotzdem immer ganz gut funktioniert.

Und viertens könnten Sie auch verlieren?
HIRSCHER: Ja! Ich kann viel besser verlieren. Mittlerweile. Ich kann sogar „Mensch ärgere dich nicht“ spielen, ohne dass die Manderl durch die Gegend geschossen werden. Das war als Kind unmöglich. Da habe ich abgeräumt.

Aber das ist doch eine Voraussetzung, um zu gewinnen? Nicht verlieren zu können?
HIRSCHER: Ich denke schon. Entweder bist du Winner, oder eben nicht.

INTERVIEW: MICHAEL SCHUEN