Der 29. Stock des Al Bidda Towers in Doha gewährt tiefe Einblicke, aber nur durch die Höhenlage. Der dort hockende Exekutiv-Direktor des Arbeiter-Wohlfahrtsprogramms, Mahmoud Qutub, kommt in den auf angenehme 22 Grad heruntergekühlten Räumlichkeiten nicht ins Schwitzen, wenn er in atemberaubendem Tempo über die sozialen Errungenschaften seines Landes referiert. Ein unbedarfter Zuhörer müsste unweigerlich zum Schluss kommen, der gute Mann spreche über ein Paradies für die Werktätigen. Die seit zwölf Jahren auf Katar zukommende Fußball-Weltmeisterschaft (20. November bis 18. Dezember 2022) hat alles überrollt. Nur die Propaganda ist immer noch einen Schritt voraus.

Drunten, auf dem Boden der Realität, hat sich ein Dutzend Arbeiter in den Schatten eines Einkaufstempels zurückgezogen. Die von 40 Grad untermauerte Ruhelage ist unerwünscht, denn sie fördert keinen Rial ans grelle Licht der Wüstensonne. Sankirt hat schon eine lange Reise hinter sich. Der 33-jährige Inder ist vor einigen Monaten von Kerala im Süden seiner Heimat nach Doha aufgebrochen, um die Gunst der WM-Stunde für sein persönliches Glück zu nutzen. Jeder der 3000 Kilometer kostet den Vater von vier Kindern fast einen Euro. Um so tief in die leeren Taschen greifen zu können, muss Sankirt sehr lange arbeiten. "Fast ein Jahr", sagt er. Dann ist erst die Vermittlungsagentur zufriedengestellt.

In der Heimat keine Arbeit

Nun sitzt er im Kreise seiner Kollegen aus Nepal, Bangladesh, Pakistan und Sri Lanka auf dem Betonboden und wartet auf den nächsten Arbeitseinsatz. Der vorherige war nicht besonders ertragreich. 4,25 katarische Rial gab es für die letzte Schicht, das entspricht einem Stundenlohn von 60 Cent. Den Job hinzuschmeißen, ist unmöglich. Denn die Schulden sind erdrückend, und der Pass wurde eingezogen. In Indien jedoch hatte er keine Chance auf Arbeit. 80 Prozent des kargen Lohns schickt er nach Hause.

Die Lage, so erzählen es die Führungskräfte in den von den Arbeitsmigranten in schwindelerregende Höhen gezogenen Auswüchsen des Öl- und Gas-Kapitalismus, habe sich in den vergangenen Jahren enorm verbessert. Die vor allem durch den Druck von außen in Gang gesetzten Reformen scheinen tatsächlich zu greifen. Laut Max Tunon von der Internationalen Arbeiterorganisation (ILO) profitieren mittlerweile 280.000 Migranten von einem Mindestlohn (250 Euro), das sind 13 Prozent der Arbeitskräfte im boomenden Emirat, ein Tropfen auf den in diesen Breiten sehr heißen Stein.

Reformen ja, aber bitte langsam

Unter dem im Angesicht der Fußball-WM besonders scharf gewordenen Blick der westlichen Welt mit NGOs wie Amnesty International oder Human Rights Watch wagen sich die Notleidenden langsam aus der Deckung. Beschwerden verlaufen nicht länger im Wüstensand, 200 Arbeitsinspektoren sollen Missstände aufdecken. Unternehmen, die Mindeststandards beharrlich ignorieren, werden sanktioniert. Dass die bei Verstößen verhängte Drei-Tage-Betriebssperre den Reformball ins Rollen bringt, darf allerdings bezweifelt werden.

In einem Bewerb jedoch ist Katar die unangefochtene Nummer eins, es hat die Bau-WM klar für sich entschieden. Für das größte Sportereignis der Welt wurden binnen weniger Jahre sieben Stadien aus dem Boden gestampft, in das größte, der unter anderem im Finale zum Zug kommenden Lusail-Arena, ist eine Milliarde Euro eingearbeitet. Der Rasen wird derzeit konstant kühl gehalten, doch ab November hat die Hitze Pause, zum Zeitpunkt der Weltmeisterschaft herrscht ideales Fußballwetter, Regen ist so gut wie ausgeschlossen.

Jeder Katari ist reich

Dafür fließen Öl und längst auch das Gas in Strömen. Katar, flächenmäßig einzuordnen zwischen Kärnten und Tirol, verfügt daher über einen unermesslichen Reichtum. Die einst das trotzig in den Persischen Golf hineinragende kleine Land im Osten der Arabischen Halbinsel prägende Perlentaucherei ist Mitte der Fünfzigerjahre untergegangen. Jeder der rund 350.000 Staatsbürger ist durch einen wundersamen Automatismus vermögend, und dabei beherrscht der Ur-Einwohner die Kunst des gepflegten Müßiggangs, so etwas wie geregelte Beschäftigung gilt in den Kreisen der Scheich-Gesellschaft als verpönt, Arbeit ist hier als gehobener Dienst definiert.

Nach außen erkennbar wird der (männliche) Katari durch die traditionelle Kleidung, den Thawb. Die weiße Weste hat insofern ihre Berechtigung, als der Golfstaat die absolute Sicherheit gepachtet hat. Es gibt in diesem islamischen Kernland praktisch keine Kriminalität, der WM-Besucher kann sich vollkommen furchtlos nach Katar begeben. Die totale Überwachung garantiert Bewegungsfreiheit, doch das Gefühl, geschützt zu sein, geht auch Hand in Hand mit der kulturellen Identität. Der Zugang zu Waffen bleibt verschlossen, es gibt keine Drogen, Alkohol ist lediglich in lizenzierten Hotels und anlässlich der WM zusätzlich eingeschränkt verfügbar.

Familienbewusste Staatsführung

Das Erziehungsprogramm des Volkes wird seit Generationen vom Haus Al Thani aus durchgezogen. Tamim bin Hamad übernahm den Staats-Betrieb 2013 von seinem Vater Hamad bin Khalifa, der ab 1995 der Großfamilie der Kataris die Ideen des Westens näherbrachte, ohne das eigene Machtmonopol anzutasten. Er zog auch die Weltmeisterschaft an Land. Das heutige hochmoderne Antlitz des Staates ist ein Produkt der letzten 30, 40 Jahre. Der rasante Wandel überholt bisweilen das geistige Tempo, die Bürger bleiben lieber unter sich. "Viele Kataris haben Angst, das Gefühl, übernommen zu werden", sagt der Islamwissenschaftler Sebastian Sons. Das darf angesichts der 2,5 Millionen Ausländer nicht überraschen. Der Kontakt mit Arbeitern wird strikt vermieden, "die Ausbeutung ist Teil des Gesellschaftsmodells", meint Sons. Sogar die wohl modernste U-Bahn der Welt wartet mit drei Klassen (Gold, Familie, Standard) auf.

Die Metro führt nicht in den entlegenen Südwesten, wo der Staub der nahen Wüste den Glanz der Prunkbauten von Doha überwuchert. Von drei Meter hohen Mauern abgeschirmte Massenunterkünfte stellen fast zwei Millionen Arbeitsmigranten in der sogenannten "Industrial Area" auf mehr als 30 Quadratkilometern, je nach Stand, Vier- bis Zwölfbettzimmer, zur Verfügung. Tausende von Bussen stehen auf überdimensionalen Parkplätzen bereit, die Ausgegrenzten Tag für Tag in die Stadt zu karren.

Geheimdienst auf Tour

Plötzlich wird die Journalisten-Tour durch das ausgedehnte Areal zu einem Tete-a-tete mit dem Geheimdienst. Der Buschauffeur bemerkt, dass ein weißer SUV die Jagd aufgenommen hat und alle Ausweichmanöver synchronisiert. Er bleibt stehen, der Verfolger überholt und hält ebenfalls an. Bei der Konfrontation legt der Steuer-Mann, es ist überraschenderweise ein Katari, ein Unschuldbekenntnis ab. "Ich bin bei der Arbeit." Also doch.