Mehr als ein halbes Jahr nach dem Einmarsch in die Ukraine haben Dutzende Lokalpolitiker in Russland den Rücktritt von Kremlchef Wladimir Putin gefordert. Es kämen weiter neue Unterstützer hinzu, twitterte die Abgeordnete eines St. Petersburger Bezirksrats, Xenia Torstrem, am Dienstag. "Wir finden, dass die Handlungen von Präsident W. W. Putin Russlands Zukunft und seinen Bürgern schaden", heißt es in der Petition. Mehrt als 40 Lokalpolitiker sollen unterschrieben haben.

Bereits in der vergangenen Woche hatten mehrere Moskauer Politiker ein ähnliches Rücktrittsgesuch an Putin gerichtet. "Lieber Wladimir Wladimirowitsch", heißt es in dem Schreiben der Abgeordneten des Lomonossow-Bezirks: "Sie hatten in der ersten und teilweise in der zweiten Amtszeit gute Reformen, aber danach ging irgendwie alles schief." Putins Rhetorik sei von "Intoleranz und Aggression" durchsetzt und werfe Russland zurück in die Zeit des Kalten Kriegs, kritisierten die Unterzeichner weiter. "Wir bitten Sie (...), Ihren Posten zu räumen, da Ihre Ansichten und Ihr Führungsmodell hoffnungslos veraltet sind."

Die direkten Auswirkungen solcher Protestaktionen dürften äußerst gering sein, dennoch sind sie nicht ungefährlich. Seit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar geht Russlands Justiz besonders hart gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor. Medienberichten zufolge laufen etwa bereits Ermittlungen gegen mehrere Petersburger Politiker, die kürzlich eine Anklage Putins wegen Hochverrats forderten – mit Blick auf den von ihm angeordneten Krieg. Ihnen wird nun die "Diskreditierung" von Russlands Streitkräften vorgeworfen – wofür schlimmstenfalls viele Jahre Straflager drohen.

Führende Teile der russischen Armee enorm geschwächt

Nach Einschätzung britischer Geheimdienste sind führende Einheiten der russischen Armee durch den Krieg in der Ukraine enorm geschwächt. Insbesondere in der Anfangsphase des Krieges habe es schwere Verluste gegeben, von denen sich die Truppen nicht erholt hätten, heißt es in einem Bericht. In der Millionenstadt Charkiw und deren Umland ist unterdessen erneut der Strom ausgefallen. Der ukrainische Vorstoß in der Region Charkiw im Nordosten des Landes läuft derweil weiter.

Den Stromausfall in Charkiw begründeten die Behörden mit dem Beschuss der Stadt am Vortag. Dadurch sei eine Reserveleitung beschädigt worden, die mehrere Ortschaften versorgt habe. Es seien aber bereits Elektriker unterwegs, um die Probleme zu beheben. In Charkiw ist unter anderem die U-Bahn durch den Stromausfall stillgelegt. Charkiw selbst wurde in der Nacht nicht beschossen.

"Stattdessen hat der Feind gegen drei Uhr nachts Losowa beschossen, dabei gab es einen Volltreffer in einer Bildungseinrichtung", teilte der Militärgouverneur von Charkiw, Oleh Synjehubow, am Dienstag auf seinem Telegram-Kanal mit. Bilder zeigen ein völlig zerstörtes Schulgebäude in der Kleinstadt, die etwa 150 Kilometer südlich von Charkiw liegt.

Ukrainer stoßen weiter vor

Die ukrainischen Streitkräfte kommen bei ihrer Offensive in der Region Charkiw aber offenbar weiter gut voran. Dies liege daran, dass die Truppe höchst motiviert und die Operation gut geplant sei, sagt die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar der Nachrichtenagentur Reuters. Es sei allerdings noch zu früh zu sagen, dass die Ukraine die volle Kontrolle über die Region übernommen habe. "Die Kämpfe dauern an", sagt Maljar. "Das Ziel ist, die Region Charkiw zu befreien und darüber hinaus alle Gebiete, die von der Russischen Föderation besetzt sind."

Nach Angaben des Leiters der regionalen Militärverwaltung von Luhansk, Serhiy Haidai, haben die Russen inzwischen auch die Stadt Kreminna verlassen. "Heute ist Kreminna völlig leer. Die ukrainische Flagge, die von den Partisanen gehisst wurde, weht dort", schrieb Haidai auf Telegram. Nach Angaben der Regionalverwaltung herrscht in den vorübergehend besetzten Gebieten aufgrund der massiven Flucht der Besatzer und Kollaborateure aber ein Mangel an Treibstoff.

Insgesamt sind nach Behördenangaben in der Region in den letzten 24 Stunden drei Zivilisten ums Leben gekommen, acht Menschen wurden verletzt. Dabei sei auch die von den Ukrainern eroberte Stadt Kupjansk im Osten des Gebiets Charkiw Ziel russischer Angriffe gewesen. Im Netz kursierten dabei Bilder einer abgeschossenen Drohne angeblich iranischen Ursprungs. Unabhängig lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.

Trotz der Entwicklungen in der Ukraine erwägt der Kreml derzeit keine Generalmobilmachung. Präsidialamtssprecher Dmitry Peskow sagte, entsprechende Forderungen und Kritik am Vorgehen der Regierung seien ein Beispiel der "Pluralität" in Russland. Die Bevölkerung an sich stehe aber weiterhin hinter Präsident Wladimir Putin.

Laut britischem Verteidigungsministerium ist etwa die Erste Gardepanzerarmee der Russen massiv geschwächt worden. Teile dieser prestigeträchtigen Einheit hätten sich in der vergangenen Woche aus der Region Charkiw zurückgezogen. Im Fall eines Krieges gegen die NATO sei vorgesehen, dass die Erste Gardepanzerarmee eine führende Rolle übernehme. Durch die Verluste sei die konventionelle Kampfstärke Russlands gegen die NATO jedoch deutlich geschwächt. Es werde Jahre dauern, um diese wieder aufzubauen.