Jede Generation schreibt, abhängig von ihren Themen und Interessen, ihre eigene Version der Geschichte. Von daher sagt jeder Vergleich mit vergangenen Epochen und Personen mehr über die Gegenwart als über die Geschichte. Hinzu kommt noch ein Spiel mit Mythen und Verklärungen, die unser Bild des Gewesenen meist stärker bestimmen als Fakten.

Der Figl-Mythos soll es richten

Heute, Dienstag, präsentiert die ÖVP unter dem Motto "Glaubt an dieses Österreich" eine Kampagne mit dem Ziel, das verloren gegangene Vertrauen in die Politik allgemein sowie in die Kanzlerpartei und in Parteiobmann Karl Nehammer insbesondere zumindest teilweise wieder zurückzugewinnen. Als Testimonial greifen die Türkisen auf Leopold Figl zurück, der aus dem Konzentrationslager kommend erst die ÖVP neu mitbegründete und dann zum ersten Bundeskanzler der Zweiten Republik die Geschicke des Landes entscheidend gestaltete.

Der Mythos will es (die Fakten lassen sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen), dass Figl in einer Rede rund um Weihnachten 1945 und inmitten von Zerstörung, Chaos und Hunger die legendären Worte "Glaubt an dieses Österreich" gesprochen hat. Damals ging es darum, das für das Überleben Allernotwendigste sicherzustellen und damit auch Vertrauen in die demokratischen Institutionen des neuen Staates aufzubauen. Figl galt wegen seiner persönlichen Passionsgeschichte während der NS-Zeit dafür als Idealbesetzung in der ÖVP.

Daran will die ÖVP nun anknüpfen, um einen Weg aus ihrer gegenwärtigen Vertrauenskrise zu finden, auch wenn die Herausforderungen des Heute nicht im Entferntesten an jene der Nachkriegszeit erinnern. Nicht die Republik steckt in der Krise, sondern ihre etablierten Parteien und Politiker – und die fortgesetzten Affären um den günstigen Erwerb umgewidmeter Grundstücke durch Parteifunktionäre in Wien, Niederösterreich und wohl auch anderswo stehen sinnbildlich für diese Entwicklung.

NS-Opfer und überzeugter Großkoalitionär

Warum aber ausgerechnet Figl: Dieser stehe "exemplarisch für den demokratischen Neubeginn Österreichs nach 1945, für Pluralität, die Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg und die Suche nach Kompromissen als Grundbedingungen für die Politik ganz generell – und das vor dem Hintergrund der schablonenhaften Ikone, zu der Figl geworden ist", erklärt der Figl-Biograf und Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, Helmut Wohnout, die ungebrochene Attraktivität des niederösterreichischen Bauernbündlers aus einfachen Verhältnissen, der sich später dann noch einmal als Außenminister mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 in die Geschichtsbücher eingeschrieben hat.

Spannend für die unmittelbare Gegenwart ist eine weitere Facette des ersten Kanzlers und legendären Außenministers: Dieser war felsenfest von der Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ zum Wohl der Republik überzeugt, dem Dritten Lager, aus dem später die FPÖ hervorging, stand er aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen während der NS-Zeit nicht nur skeptisch, sondern sogar ablehnend gegenüber, obwohl schon damals ein Wettrennen zwischen ÖVP und SPÖ begann, mit den Freiheitlichen politisch wieder ins Geschäft zu kommen. Nehammer setzt hier auf eine differenziertere Strategie. Sein politisches Versprechen lautet sinngemäß: nicht mit Herbert Kickl, und mit keiner FPÖ an dessen Gängelband.

"Prinzip Hoffnung" hat schon einmal funktioniert

Einen bodenständigeren Zugang zu den Motiven Nehammers und der ÖVP hat Karin Praprotnig. Für die Demokratieforscherin steht weniger die Geschichte Figls als die grassierende Unzufriedenheit mit der Regierung im Zentrum der strategischen Überlegungen. Dem will die ÖVP nun das Prinzip Hoffnung entgegensetzen, um die negative Stimmung wenigstens abzufedern. Das Beispiel Figls zeige schließlich, dass das schon einmal in schwierigen Zeiten funktioniert hat. Und Praprotnig verweist auf noch einen erfolgreichen Neustart der ÖVP als Regierungspartei: 2017 mit Sebastian Kurz. Dieser stellte dann jedoch, ganz unfiglhaft, der SPÖ den Regierungsstuhl vor die Tür und holte die FPÖ in eine Koalition mit der ÖVP.