Bei einem Festakt zum 100. Geburtstag von Leopold Figl würdigte der Historiker Ernst Bruckmüller den ersten Bundeskanzler nach dem Fall des Nazi-Reiches als österreichisches Symbol des 20. Jahrhunderts und als zentrale Figur des Österreich-Bewusstseins der Zweiten Republik. In einer Umfrage, in der die Österreicher gefragt wurden, auf wen sie stolz seien, werde Figl nach Wolfgang Amadeus Mozart bereits an zweiter Stelle genannt, führte der Professor in seiner Festrede im Jahr 2002 aus.
16 Jahre später ergibt eine spontane Befragung von jungen Menschen unter 30 mit gehobener Schulbildung, dass die Erinnerung an diesen „Figl von Österreich“, wie ihn Biograf Ernst Trost titulierte, verblasst. Zwei von zehn gefragten wussten spontan, wer denn dieser Figl war, drei weitere hatten irgendwann einmal den Namen gehört, ohne ihn gleich zuordnen zu können, die fünf anderen erfuhren erstmals vom Sein eines Politikers dieses Namens.

In der Erinnerung älterer Generationen, die mit einer gewissen Glorifizierung der Nachkriegszeit aufgewachsen sind, bleibt Leopold Figl lebendig. Als Mythos, im zärtlichen Licht des zeitlichen Abstandes. Als Politiker, besser als Staatsmann, maßgeschneidert für seine Zeit, für ein Land, das unter den Wunden des Nazi-Regimes leidet. Figl, in stets verbindlicher Schlichtheit, ist das Gegenprogramm zu den stechschrittartigen vergangenen sieben Jahren. Der aus einer Bauernfamilie stammende, 1902 geborene Niederösterreicher meidet die Konfrontation. Wenn es in der Koalition mit der SPÖ kriselt, löst er das gern bei einem Glaserl Wein, mit dem Russen versucht er, kumpelhaft zurande zu kommen.

In der Todeszelle

Figl fürchtet eine unüberbrückbare Kluft, wie in der Zeit des Ständestaates. Damals war der Absolvent der Hochschule für Bodenkultur Bauernbundfunktionär. Von den Nazis Jahre im Konzentrationslager eingekerkert, mit Sozialisten und Kommunisten als Leidensgefährten, landet Figl 1945 in der Todeszelle, entging der Hinrichtung gerade noch durch den Zusammenbruch des Regimes. Die Leidenszeit im Konzentrationslager mit Sozialisten und Kommunisten prägt das politische Verständnis des Bauernsohns. Er sucht das Verbindende, Gemeinsame. Man wird es den „Geist der Lagerstraße“ nennen.

Dieser Bauernbündler Leopold Figl gehört zu den Mitbegründern der ÖVP, wird Ende April 1945 Staatssekretär in der provisorischen Staatsregierung und am 20. Dezember 1945 nach dem Sieg der ÖVP bei der ersten demokratischen Wahl Bundeskanzler. Der ehemalige Bauernbub aus Niederösterreich ist kein Politiker der großen Versprechen, aber er versteht es, das darbende Volk zu trösten. Seine Weihnachtsansprache von 1945 „Ich kann euch zu Weihnachten nichts geben ...“ ist zwar eine Rekonstruktion späterer Jahre, aber diese einfachen, aus dem Herzen kommenden Sätze – das ist Figl, der sein Herz oft auf der Zunge trägt. Womit auch ausländische Gäste beteilt werden, wenn sie der Kanzler mit einem manchmal vielleicht unverständlichen, jedoch umso herzlicheren Wortschwall umgarnt.

Julius Raab rückt nach


Nicht öffentliche Worte, sondern ein geheimes Gespräch mit Ernst Fischer von der Kommunistischen Partei, wovon sich der Kanzler Zugeständnisse der Sowjetunion erwartet, weitet sich zu einer Krise aus, die als „Figl-Fischerei“ 1947 Wogen schlägt. Der Kommunist verlangt eine Änderung an der Regierungsspitze und eine stärkere Beteiligung der KPÖ an der Regierung. Als die Unterredung publik wird, schürt das besonders das Misstrauen des Westens. Figl überlebt diese Affäre politisch, nicht aber die Verluste der ÖVP bei der Nationalratswahl 1953. Julius Raab, der starke Mann in der ÖVP, übernimmt das Kanzleramt.
Das Amt des Außenministers erhält der Ex-Kanzler zwar als Trostpflaster, kann aber international seine Kommunikationsfreudigkeit ausleben und wirkt maßgeblich an den Verhandlungen für den Staatsvertrag mit. Den er auch am 15. Mai 1955 unterschreibt, um danach auszurufen: „Österreich ist frei!“

Als Nationalratspräsident empfängt er im Tullnerfeld Nikita Chruschtschow, wettete mit dem Kreml-Herrn, dass der niederösterreichische Mais so gut wie der ukrainische sei. Ein Treffen wie das zweier alter Freunde. Figl in Hochform. Letzte politische Station wird 1962 das Amt des Landeshauptmannes von Niederösterreich. 1965 stirbt er. Der Trauerzug in Wien führt über den Heldenplatz, wo 1938 Hitler den Anschluss verkündete. Die Menschen drängen sich, um vom ehemaligen Kanzler Abschied zu nehmen, es ist wie eine Beglaubigung: Figl von Österreich hat den Diktator Hitler besiegt.