Herr Minister, in Ihren Zuständigkeiten lodern gefühlt überall kleinere und größere Feuer: von ausgebrannten Pflegekräften über die soziale Situation bis zu den überfüllten Spitalsambulanzen. Wo wollen Sie zu löschen beginnen?

JOHANNES RAUCH: Ich bin vor einem Jahr gekommen, da war die Pandemie das dominierende Thema. Ich bin als Gesundheitsminister gestartet und habe dann rasch erkannt, dass es einen starken Sozialminister braucht. Es darf bei den Menschen nicht der Eindruck entstehen, "die da oben kümmern sich gar nicht um uns". Wenn dieser Eindruck entsteht, das geht sich alles nicht mehr aus, bekommen die Menschen das Gefühl, abgehängt zu sein. Das halte ich für gefährlich. Deshalb gibt es seit 1. Jänner auch die Valorisierung der Sozial- und Familienleistungen, das Schulstart-Paket – Hilfestellungen für jene, die sie dringend brauchen.

Der größte Brocken bei der Valorisierung der Sozialleistungen ist die Erhöhung der Familienbeihilfe. Das ist doch das Gegenteil einer gezielten Hilfe, die bekommt jeder, der Kinder hat.

Auch bei Lohnverhandlungen profitieren höhere Gehälter. Aber wir haben ergänzend viele gezielte Instrumente wie den Wohnschirm, weil wir gesehen haben, dass sehr viele Menschen von Delogierungen bedroht sind. Mit 164 Millionen Euro gelingt es uns, Delogierungen zu verhindern – wenn es sein muss auch in letzter Minute.

Gegen solche präzisen Förderungen wird ja kaum jemand was sagen. Aber Experten kritisieren, die Bundesregierung habe zu lange auf Gießkannenförderung gesetzt – wie den doppelten Klimabonus, der jedem Menschen in Österreich zugekommen ist.

Ich halte diese pauschale Kritik für überzogen. Aber ja, natürlich hätten wir gerne von Beginn an treffsicherer agiert. Wir mussten Geschwindigkeit gegen Treffsicherheit abwägen. Wir arbeiten bereits daran, Daten miteinander verschneiden zu können, um treffsicher helfen zu können. Aber das ist datenschutzrechtlich nicht ganz problemfrei. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, wenn die Leute das Gefühl haben, ich verliere meine Würde. Das haben wir mit dem raschen Handeln im vergangenen Jahr geschafft.

Trotzdem gibt es diesen Eindruck offenbar.

Nach drei Jahren Pandemie, Krieg in der Ukraine und Teuerung herrscht bei vielen Menschen das Gefühl, die Welt ist aus den Fugen geraten. Die Unsicherheit ist da: Wie wird das in Zukunft für meine Kinder sein? Ein Gefühl, Dingen ausgeliefert zu sein, die schwer beeinflussbar sind, zum Beispiel den steigenden Preisen im Supermarkt. Ich selbst war wirklich erschüttert, wie wenig Bereitschaft von den Lebensmittelkonzernen da war, für Transparenz zu sorgen oder Preisrückgänge weiterzugeben.

Sie sind auch Minister für Konsumentenschutz – hätte es da in den letzten Jahren nicht mehr Anstrengungen gebraucht, um für Transparenz zu sorgen?

Als Minister für Konsumentenschutz habe ich den VKI beauftragt, sowohl die Wien Energie als auch den Verbund zu klagen. Kundinnen und Kunden aus Verträgen hinauszuwerfen, nur weil es opportun ist, die Menschen im Regen stehen zu lassen. Das geht sich für mich nicht aus. Das ist ein klares Konsumentenschutz-Thema.

Auch das Gesundheitswesen ist in der Krise, symptomatisch sieht man das in überfüllten Ambulanzen. Hat sich Österreich zu lange auf dem Titel "Bestes Gesundheitssystem der Welt" ausgeruht?

Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, aber es ist extrem kompliziert organisiert. Das Grundproblem ist, dass wir unterschiedliche Finanzierungstöpfe haben – Sozialversicherung, Bundesländer und Bund. Das versuche ich jetzt zu verbessern. Es braucht 500 zusätzliche Kassenärzte, es braucht mehr Primärversorgungseinrichtungen, es braucht ein Angebot, wo ich als Patient weiß, da werde ich nicht im Kreis geschickt. Wenn wir das nicht zustande bekommen, werden die Leute weiterhin in die Ambulanzen laufen.

Wie kriegt man das zustande?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Eine Bundesstaatsreform, die sehe ich am Horizont aber nicht in den nächsten hundert Jahren. Oder den Finanzausgleich. Der ist jetzt in Verhandlung und ich bin relativ zuversichtlich, da etwas hinzubekommen.

Sie wollen eine "Eingrenzung der Wahlärzte". Was meinen Sie damit konkret?

Offenbar ist es in Österreich viel attraktiver, eine Wahlarzt-Ordination aufzumachen, als einen Kassenvertrag anzunehmen. Das heißt, wir brauchen eine Attraktivierung der Arbeitsbedingungen im Kassenbereich. Diese Dinge sind machbar und leistbar. Wir werden dafür zusätzliche Mittel brauchen, das ist evident.

Wo kommt das Geld dafür her? Brauchen wir eine neue Steuer oder gibt es Einsparpotenzial?

Was spricht gegen eine Millionärssteuer, wenn die Vermögen derart ungerecht verteilt sind? Aber das ist eine eigene Geschichte. Für mich sind das nicht nur Kosten, sondern Investitionen, die wir tätigen müssen. Ich will es noch mal am Gesundheitssystem erläutern: 500 zusätzliche Ärztinnen und Ärzte im niedergelassenen Bereich führen dazu, dass der Spitalsbereich, der teuerste aller Bereiche, entlastet wird. Das ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll und notwendig. Bei der Armutsbekämpfung bin ich der Überzeugung, dass wir alles tun müssen, um Kindern ihre Entwicklungschancen zu sichern. Auch das spart langfristig Geld, wenn Kinder aus armen Familien nicht selbst im sozialen Netz landen.

Alle diese Themen spielen in die Demografie hinein. Hat Österreich da einen blinden Fleck gehabt über Jahre, dass uns jetzt einfach die Bevölkerung ausgeht – in Bildung, Pflege, in der Ärzteschaft usw.?

Ganz Europa hat einen blinden Fleck gehabt. Europa ist ein alternder Kontinent. Wir werden bald nur noch vier Prozent der Weltbevölkerung stellen, früher waren wir bei 20 Prozent. Wir sind gealtert und es geht darum, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Da geht es auch darum, die notwendigen Pflegekräfte zu holen. Die werden langfristig nicht nur aus Österreich oder Europa kommen.