Was sind die Lehren aus diesem Krieg? Liegt Europa im Aufwachzimmer?
GÜNTER HÖFLER: Er hat zu einem ganz radikalen Umdenken zur Sicherheit in Europa geführt. Sehr viele Staaten nehmen jetzt Geld in die Hand und verstärken ihre Verteidigungsanstrengungen, ganz besonders Deutschland. Aber die meisten haben das schon 2014 nach der Annexion der Krim gemacht.

Ganz aus heiterem Himmel kommt dieser Konflikt ja nicht.
Nein, auch das Bundesheer hat ihn in seinen strategischen Analysen immer als eine der möglichen Bedrohungen am Schirm. Aber das hat niemand ernst genommen. Österreich ist in seinem Desinteresse verharrt. Bei den Verteidigungsausgaben halten wir derzeit bei 0,66 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist zwar ein leichter Anstieg zu den letzten Jahren, aber immer noch viel zu wenig.

Wie hoch müssten sie sein?
Deutschland geht nächstes Jahr auf zwei Prozent – oder schauen wir in die Schweiz, die ein Budget von über fünf Milliarden Euro hat und davon jährlich drei Milliarden Euro investiert. Wir brauchen ein Prozent des BIP und zwar sofort.

Welchen Schutz bietet das Heer in diesem Zustand noch?
Es ist nicht in der Lage zur Abwehr eines konventionellen Angriffs auf Österreich. Viel wahrscheinlicher sind aber hybride Bedrohungen, auf die eine Schutzoperation die Antwort wäre. Da ist das Bundesheer nur sehr eingeschränkt in der Lage, die Bevölkerung zu schützen. Kleinere Schutzoperationen etwa in Städten sind möglich, in größeren Räumen aber nicht.

Was fehlt konkret?
In Wahrheit haben wir keine funktionierende Flieger- und Drohnenabwehr. Unsere Fliegerabwehr endet auf einer Höhe von 3000 Metern, das ist gar nichts. In der Luft haben wir die 15 Eurofighter, denen es an wesentlichen Systemen fehlt, die ein modernes Flugzeug ausmachen. Auch die Lenkwaffen sind veraltet und nur in geringster Stückzahl vorhanden. Wegen der Geldknappheit will man die Nutzungsdauer bestimmter Systeme im Bereich Flieger- und Panzerabwehrlenkwaffen verlängern. Es bleibt aber ein altes System und gehört erneuert. Was solche neuen Systeme leisten, sieht man derzeit in der Ukraine.

Soldaten des Jägerbataillons 17 bei einer Übung
Soldaten des Jägerbataillons 17 bei einer Übung © BMLV

Aber braucht deshalb auch Österreich solche Waffen?
Ich nenne als Beispiel Kampfdrohnen, mit denen man Ungeheuerliches anrichten kann. Die muss ich verlässlich abwehren können. Mit einem Jet ist man von Weißrussland über Ungarn sofort in Österreich. Habe ich keinerlei Schutz, fordere ich mögliche Aggressoren geradezu heraus.

Was könnte unser Heer der Ukraine geben?
Abgesehen von Helmen und im kleineren Rahmen Verpflegung gar nichts. Die Regale sind leer.

Wie erleben Sie die sicherheitspolitische Debatte in diesem Land?
So wie in den letzten Jahren, wir schwindeln uns immer nur durch. Wir haben herrliche Konzepte, aber das ist nur Papier. Es ist höchste Zeit, dass das vorbereitete Krisensicherungsgesetz beschlossen und ein Lagezentrum in Angriff genommen wird. Unglaublich, dass es das bei uns noch nicht gibt.

Das braucht man für die Steuerung einer Krisensituation?
Heute ist es die Pandemie, jetzt die Ukraine, es kann ein Reaktorunfall oder ein Blackout sein. Der Bürger erwartet, dass der Staat dafür bestens gerüstet ist – und das ist er nicht.

Schlafende geistige Landesverteidigung

Ist das politische Desinteresse ein Abbild des fehlenden geistigen Interesses an der Wehrhaftigkeit?
Absolut. In den 1980er-Jahren gab es noch die umfassende Landesverteidigung, die Auswirkungen sieht man noch in den Bundesländern. Dort gibt es Lagezentren, die Länder machen immer wieder Planübungen. Auf Bundesebene findet das nicht mehr statt. Die geistige Landesverteidigung ist überhaupt eingeschlafen. Ich glaube, die Wehrhaftigkeit in der Bevölkerung ist mehr vorhanden, als die politische Führung wahrhaben möchte.

Dieser opportunistische Pazifismus, den Sie da beschreiben, gehört also beseitigt?
Bei uns redet man sich immer wieder darauf aus, wir werden aktiv, wenn es eine Europa-Armee gibt. Das ist eine wunderbare Ausrede, fast nichts zu tun. Und zwar, weil die Europa-Armee kein Thema in der EU ist.

Aber es wird ja immer die Notwendigkeit einer europäischen emanzipierten Verteidigungsstrategie beschworen.
Was bleibt, ist, dass viele Staaten ihre eigene Abwehrfähigkeit und Resilienz, die Widerstandsfähigkeit, stärken. Aber zu warten, dass eine starke Europa-Armee unseren Schutz übernehmen wird, ist ein völliger Irrglaube. 21 der 27 EU-Staaten gehören der Nato an und sehen sich dort gut aufgehoben.

Eine Emanzipation von der Nato wäre militärisch unsinnig?
Ja. Eher wäre die Stärkung des europäischen Pfeilers in der Nato anzustreben. Aber kein Gegenstück dazu.

Könnte dieses Europa eine Antwort auf die atomare Bedrohung formulieren?
Nein, das europäische atomare Potenzial ist viel zu gering im Vergleich zu Russland. 92 Prozent der Atomwaffen sind im Besitz der USA und Russlands. In Wahrheit ist Europa ohne den nuklearen Schirm der USA atomar voll erpressbar.

Die Nato wird also Europas schützende Hand bleiben?
Vor allem für einen kleinen Staat in Europa ist, wenn seine Sicherheit konsequent und glaubwürdig sein soll, das Verteidigungsbündnis Nato die einzige und beste Versicherungspolizze.

Günter Höfler im Gespräch mit Redakteur Wilfried Rombold
Günter Höfler im Gespräch mit Redakteur Wilfried Rombold © Patterer

Was fehlt der EU im Vergleich zur Nato?
Der große Vorteil der Nato ist die integrierte, über Jahrzehnte eingespielte Kommandostruktur. Und es sind Fähigkeiten, über die Europa alleine nicht verfügt. Ich denke an die strategische Aufklärung, die Intelligence, die strategische Mobilität, Kapazitäten im Cyberwarfare. Wesentlich ist, dass die EU immer noch eine Summe von Staaten ist, die ihre eigenen militärischen Strukturen nicht aufgeben werden.

Würde die Bevölkerung einen Nato-Beitritt mittragen?
Wenn die Politik sich ideologiefrei damit auseinandersetzt, was der beste Schutz für Österreich ist und das der Bevölkerung auch erklärt, dann bin ich davon überzeugt, dass sie es mitträgt. Ich sage auch: Wenn wir jetzt nicht die Lehren aus der Krise ziehen, so wie alle anderen Länder in Europa, dann ist uns nicht mehr zu helfen.

Wie weit schützt die Neutralität dieses Land?
Die schützt uns überhaupt nicht. In der Geschichte hat sie ein Land noch nie vor einem Aggressor bewahrt. Die Neutralität ermöglicht die Rolle eines Brückenbauers, aber die muss sicherheitspolitisch glaubwürdig sein. Es gibt nur zwei Alternativen: Eine starke bewaffnete Neutralität wie die Schweiz oder ein Beitritt zur Nato.