Sie beobachten seit einem Jahr sehr genau die Situation, nicht im Auftrag der Politik. Im Herbst hat die Regierung zu spät gehandelt, wir haben das einmal unter dem Titel „Die Schlafwandler“ kommentiert. Sehen Sie Parallelen?

Erich Neuwirth: Die Motivation der Regierung ist mir unzugänglich. Seit sechs Wochen steigen die Zahlen, nach zwei Wochen sollte man, so die Erfahrung des Jahres, über Maßnahmen reden.

Wie dramatisch ist die Lage?

Dramatisch ist immer eine Frage der Sicht der Dinge. Wir haben derzeit einen stetigen Anstieg, der allerdings nicht sehr steil ist. Es ist schwer zwischen linear und exponentiell zu unterscheiden. In allen Bundesländern geht es seit Mitte Februar aufwärts, also seit mehr als vier Wochen. Vorarlberg ist eine Ausnahme, allerdings beobachten wir dort womöglich  auch eine Trendumkehr.

Wie ist die Lage in Ostösterreich? Kann man von einem dreigeteilten Land sprechen?

Wien ist nur mehr ganz knapp unter dem Höchststand der Intensivfälle von November. In Niederösterreich und Burgenland bewegen sich in diese Richtung, wobei es in den letzten Tagen in beiden Ländern eine Abschwächung gegeben hat.

Besteht Handlungsbedarf?

Jetzt über Lockerungen nachzudenken, halte ich für verantwortungslos.

Muss man verschärfen?

Die Frage ist wo. Ich habe den Eindruck, dass in den Schulen die Maßnahmen nicht konsequent genug durchgesetzt werden. Gibt es überall Luftfilter? Wird sorgfältig genug getestet? Da müsste man genau hinschauen. Ich verstehe das Bedürfnis, Schulen nicht zu schließen. Nur muss man dann die Bedingungen schaffen, damit es ungefährlich bleibt. Bei Homeoffice sehe ich auch noch Luft nach oben.

Es sieht so, als ob die Impfung nicht die dritte Welle aufhalten kann. Warum?

Ich weiß nicht, ob es nur ein Impfstoffengpass oder ein  Organisationsproblem ist. 60 Prozent der über 85-Jährigen sind geimpft. Da gibt es in manchen Ländern massive Probleme, weil das vor allem Heimbewohner waren.

Sind die spektakulären Rückgänge der Toten in Alten- und Pflegeheimen ein Erfolgserlebnis?

Das scheint tatsächlich gelöst zu sein. Allerdings lebt ein erheblicher Teil der Alten zu Hause, nicht in Heimen, und da gibt es noch Probleme. Ich bin durch meine Mutter selbst davon betroffen, sie ist bettlägrig zu Hause und ich habe noch keinen Weg gefunden, dass sie daheim geimpft wird.

Wenn die Politik die Hände in den Schoß legt, wo sind wir dann am Ostersonntag?

Eine echte Prognose ist schwierig. Ich würde meinen, 5000 Fälle pro Tage sind realistisch. Wenn die Zahlen so hoch sind und die Intensivkapazitäten nicht mehr ausreichen, werden die Todeszahlen dramatisch steigen. Wir sind bei den Todesfällen noch nicht dort, wo wir im November schon waren.