Wir beachten Ampeln und Verkehrsschilder, wenn wir uns auf Straßen bewegen. Beim „Mensch ärgere dich nicht“-Spielen gibt es eine Anleitung für das Bewegen der Figuren. Beim Fußball zählt ein Tor dann nicht, wenn der Schiedsrichter ein Abseitsvergehen feststellt. Wenn Menschen miteinander agieren, so gibt es, wie in den geschilderten Situationen, fast immer (Spiel-)Regeln, die festgelegt sind und an deren (Nicht-)Einhalten Konsequenzen geknüpft sind. Auch im Staat gibt es solche Spielregeln, und diese Grundsätze für das staatliche Zusammenleben kann man als Verfassung bezeichnen.

Verfassungsdokumente finden sich nicht erst in der Antike bei den Griechen und Römern, sondern bereits zuvor bei älteren Reichen. Die Frage nach der besten Verfassung stellten schon Platon, Aristoteles und Cicero. Regeln für das Zusammenleben findet man auch bei primitiven menschlichen Gruppen und in der Tierwelt, von kollektiven Entscheidungen der Honigbienen über Besiedelungsstätten bis zur strikten Rangordnung bei Schimpansen. Während diese Spielregeln allerdings von überwiegend genetisch bedingten Instinkten und Trieben bestimmt sind, verstehen wir unter einer Verfassung ein von Menschen bewusst geschaffenes Regelwerk, das in der Regel aushandelbar und kontinuierlichen Veränderungen unterworfen ist.

Das Vorhandensein einer Verfassung ist noch keine Garantie, dass es sich um einen Rechtsstaat bzw. eine Demokratie handelt, wie viele Beispiele in Geschichte und Gegenwart belegen. Eine Verfassung ist Grundvoraussetzung für Rechtsstaat und Demokratie, sie kann diese aber nur garantieren, wenn die entsprechenden Grundsätze verankert sind und die Verfassung in der Praxis auch gelebt wird – und nicht nur zum Schein diktatorische Machtverhältnisse tarnen soll.

Typischerweise ist in einer Verfassung geregelt, welche Organe es gibt (Parlament, Präsident, Regierung, Gerichte etc.), wie diese bestellt werden und welche Aufgaben sie haben. Ebenso wird in einer Verfassung geregelt, welche Rechte die Bürgerinnen und Bürger haben, vor allem was das Wahlrecht und die Grund- und Freiheitsrechte betrifft. In jüngerer Zeit finden sich in Verfassungen häufig auch Staatsziele (wie z. B. Umweltschutz) und manchmal auch soziale Grundrechte bzw. Leistungspflichten des Staates.

Da in einer Verfassung die wichtigsten Spielregeln im Staat festgelegt sind, ist ihre Änderung in der Regel an erhöhte Bedingungen geknüpft. Braucht es etwa in Österreich für ein einfaches Gesetz nur eine einfache Mehrheit im Nationalrat, so ist für eine Verfassungsänderung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Bei einer „Gesamtänderung“ der Bundesverfassung, wenn ihre bedeutendsten Grundsätze verändert werden sollen, muss überdies die Mehrheit bei einer Volksabstimmung zustimmen (wie bei der Volksabstimmung 1994 über den Beitritt Österreichs zur EU).

Bevor der Bundespräsident nach der „Ibiza-Affäre“ mehrfach die „Schönheit“ und „Eleganz“ der österreichischen Bundesverfassung betonte, hatte diese in der Öffentlichkeit einen weniger guten Ruf. In der Regel wurde sie als reformbedürftig angesehen, insbesondere wegen ihrer starken Zersplitterung. Zersplittert ist die Verfassung, weil es neben ihrem Kern, dem das Jubiläum feiernden Bundes-Verfassungsgesetz, noch eine große Zahl an anderen Verfassungsgesetzen und Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen gibt. Dies ist im internationalen Vergleich unüblich. Unüblich ist aber auch die Situation im Vereinigten Königreich, wo es überhaupt kein Kerngesetz der Verfassung gibt, sondern einzelne Rechtsakte, von der Magna Charta 1215 an, die in ihrer Summe die Funktion der Verfassung erfüllen. Dies zeigt, dass gerade die Verfassungssituation eines Landes sehr von seiner Geschichte geprägt ist. Auch wenn solche formalen Aspekte durchaus symbolische Bedeutung haben, ist bei einer Verfassung aber jedenfalls wesentlicher, wie die Spielregeln des Staates inhaltlich ausgestaltet sind und wie sie gelebt werden.

Klaus Poier ist Universitätsprofessor für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft an der Universität Graz.