Hans-Peter Hutter: In manchen Bereichen waren die Lockerungen zu früh

Maßnahmen wie das Tragen von Mund-Nasen-Schutz und Abstandhalten müssen in einer Pandemie zum Automatismus in der Gesellschaft werden. Dafür kamen die Lockerungen aber zu früh.

Definitiv zu früh abgelegt haben wir die Maske in unseren Köpfen. Leider hat der Mund-Nasen-Schutz (MNS) im kollektiven Bewusstsein nicht den Stellenwert, den ihm die Wissenschaft gibt: Er ist ein äußerst wirksames Mittel, um Infektionen zu verhindern. Zu Beginn dieser Pandemie gab es dazu unglücklicherweise widersprüchliche Botschaften: Die Weltgesundheitsorganisation und das Robert-Koch-Institut haben lange keine Empfehlung für das Tragen von Schutzmasken in der Bevölkerung gegeben. Fehlten zu Beginn belastbare Daten zur Wirksamkeit von MNS, so sammeln wir immer mehr Beweise dafür – ein Beispiel: In den USA verglich man Bundesstaaten, in denen es nur eine Empfehlung zum Tragen von MNS gab, mit jenen Staaten, die das Maskentragen verpflichtend machten. Die Infektionszahlen sind in den Staaten, die auf Freiwilligkeit setzten, um mehr als 80 Prozent gestiegen, während sich die Anzahl von Neuerkrankten in Staaten mit Maskenpflicht um ein Viertel reduzierte.

Um eine Maßnahme wie das Tragen von MNS in der Bevölkerung zu etablieren, muss ein Automatismus entstehen: So wie wir uns nicht jeden Tag vor dem Zähneputzen darüber Gedanken machen, dass uns Zähneputzen vor Karies und Zahnverlust schützt, sondern es zum automatischen Ritual geworden ist, bräuchten wir einen Automatismus für zwei zentrale Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung: für das Einhalten von Abstand zu unseren Mitmenschen und für das Tragen von MNS in speziellen Innenräumen. Für so einen Automatismus war die Zeit, in der die Maßnahmen galten, zu kurz. Durch den Automatismus hätten wir es für die Zukunft leichter gehabt, wenn es spätestens im Herbst strengere Regeln geben könnte.

Speziell in Supermärkten bin ich mit der Lockerung der Maskenpflicht nicht einverstanden, denn kann man es sich aussuchen, ob man in ein Gasthaus gehen will, so muss jeder einkaufen gehen – auch Menschen, die zur Risikogruppe gehören. Gleichzeitig haben die Lockerungen auch zu Verwirrung geführt: Wo gilt was? Und warum? Maßnahmen sowie Lockerungen müssen gut erklärt und medizinisch und epidemiologisch begründet werden.

Mir ist bewusst, dass sich der Mensch mit Krisen, die so lange dauern, schwertut. Lockerungen wurden herbeigesehnt, das Tempo war anfangs vielen zu langsam – doch nun sehen wir, dass es in manchen Bereichen doch zu früh war und die so wichtigen Verhaltensweisen wie Abstand halten und Mund-Nasen-Schutz tragen nicht verinnerlicht wurden.

Michael Fleischhacker: Das Ziel der Lockerungen war, der erste zu sein

Dafür, dass Mund-Nasen-Schutz einen großen Beitrag zur Verhinderung neuer Cluster leistet, gab es keine Evidenz. Sowohl Einführung als auch Aufhebung waren nicht gesundheits-, sondern kommunikationspolitische Maßnahmen.

Soweit ich das überblicken kann, besteht über die Frage, welchen Beitrag der einfache Mund-Nasen-Schutz zur Eindämmung des Sars-CoV-2-Infektionsgeschehens leistet, keine große wissenschaftliche Einigkeit. Weder die Einführung der Trageverpflichtung noch die schrittweise Aufhebung waren evidenzbasierte Maßnahmen, was sie aber nicht substanziell von anderen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie unterscheidet.

Die Behauptung, dass die Aufhebung zu früh erfolgt sei, fußt auf der Annahme, dass der Mund-Nasen-Schutz einen nennenswerten Beitrag zur Verhinderung neuer Infektionscluster leisten kann, wofür es keine Evidenz, aber viele Untersuchungen mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen gibt.

Ähnliches gilt für Schulschließungen, wobei sich unter Wissenschaftlern gerade die Auffassung durchzusetzen scheint, dass Kinder nicht nur kaum ein nennenswertes Krankheitsrisiko haben, sondern auch bei der Verbreitung des Virus eine untergeordnete Rolle spielen.

Beides wusste man schon zu dem Zeitpunkt, als man die Öffnung der Schulen unnötig lange verzögerte und die MNS-Pflicht einführte. Mit anderen Worten: Es handelte sich nicht um gesundheitspolitische, sondern um kommunikationspolitische Entscheidungen.

Beides, die unnötig lang geschlossenen Schulen und der verpflichtende MNS, war Teil einer Kommunikationsstrategie, deren Ziel es war, den Angstpegel der Bevölkerung auf einem Niveau zu stabilisieren, um im internationalen Vergleich als Vorbild zu gelten.

Gleiches galt bei der Aufhebung der Maskenpflicht und Schulöffnungen. Die Order zur rascheren und vollständigen Wiedereröffnung kam direkt aus dem Kanzleramt, auch die flotten Lockerungsschritte wurden von dort gesteuert. Das Ziel der Kommunikationsstrategen war das gleiche wie zuvor: internationales Vorbild zu sein, auch bei der Wiedereröffnung.
Die PR-Armee des Kanzlers ist inzwischen darauf spezialisiert, dieser Kritik mit der Behauptung zu kontern, nur böswillige Menschen könnten unterstellen, der Kanzler oder die Regierung absolvierten auf dem Rücken der Bevölkerung Kommunikationsplanspiele.

Dabei wäre es ganz einfach, diese Kritik zu entkräften, indem man transparent machte, auf welcher wissenschaftlichen Evidenzbasis die jeweiligen Entscheidungen getroffen wurden. Das geschieht nicht, weil es diese Basis nicht gibt.

Ob die Abschaffung der Maskenpflicht epidemiologisch zu früh kam, ist also ungewiss. Dass sie politisch gut getimt war, steht hingegen fest.