Der endgültige Abschied kam unerwartet. Am Freitag weilte er noch mit seiner Frau bei der Hochzeit von Gerhard Schröder in Berlin, Samstag  früh informierte Christian Kern seine Nachfolgerin als Parteichefin, dass er nun doch nicht nach Europa gehen wolle. Pamela Rendi-Wagner und Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda verbrachten den Vormittag am Telefon, zumindest das hohe SPÖ-Präsidium sollte von Kerns neuerlicher Kehrtwende nicht wieder aus den Medien erfahren.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Mit 20 minütiger Verspätung trat Kern in der Löwelstraße vor die Presse, die Verzögerung war nicht irgendwelchen Interna geschuldet, sondern der bundesweiten Sirenenprobe. „Wahrscheinlich ist sie von Michael Ludwig extra angeordnet worden“, heißt es scherzend – und nicht minder prophetisch unter den wartenden Journalisten. Kern begründete seinen endgültigen Abschied aus der Politik mit den „ständigen Intrigen.“ Später sollte er noch hinzufügen, dass diese alle aus der eigenen Partei kämen. „Da spielen ein paar ihre Spielchen.“ Er sei froh, einen Schlussstrich unter die Berufspolitik gezogen zu haben.

"Er hat gedacht, er geht jetzt nach Europa und kann so die Innenpolitik abschütteln. Nur so funktioniert es nicht“, sucht ein hoher SPÖ-Politiker nach den Beweggründen für Kerns Kehrtwende. Vor zweieinhalb Wochen hatte der ehemalige Kanzler nicht nur die Öffentlichkeit mit der Kunde überrascht, er trete als Parteichef ab und gehe nach Europa. Rendi-Wagner, die seit dem Sommer wusste, dass sich Kern mit dem Gedanken trug, den Vorsitz in der SPÖ abzugeben, erfuhr wenige Stunden zuvor vom definitiven Entschluss.

„Die Selbstinthronisierung als EU-Spitzenkandidat hat viele in der Partei verstört“, erklärt ein anderes Präsidiumsmitglied. „Dass er dann doch wieder offen gelassen in der Zib2 und in anderen Interviews, ob er wirklich antritt, hat nur noch Kopfschütteln ausgelöst.“ Einige Landesparteien sollen offen und weniger offen zu verstehen gegeben haben, sie könnten nicht garantieren, dass Kern beim Parteitag Ende November die nötige Unterstützung für die EU-Kandidatur erhalten würde. Ein Ergebnis deutlich unter 90 Prozent käme einem Misstrauensvorschuss gleich.

Im Laufe der Woche reifte in Kern der Entschluss, doch nicht nach Europa zu gehen. Letzte Woche flog er zunächst nach Montreal, wo er Justin Trudeau traf. Nach einem Zwischenstopp in Wien ging es wieder zurück nach New York. Dieser Tage traf er Matteo Renzi in Rom. Am Montag traf er Altbundespräsident Heinz Fischer, der ihm davon berichtete, dass Bruno Kreisky nach Politik „süchtig“ war. Ob er, Kern, denn auch nach Politik süchtig sein, fragte ihn Fischer, was er verneinte. „Ich habe noch viele anderen Interessen außerhalb der Politik“, so Kern. Politik sei auch eine Last.

Worüber Kern nicht so gern spricht, ist seine Fehleinschätzung, Hybris in Sachen EU-Wahl. In den letzten Wochen hatte er immer wieder großspurig betont, er wolle eine „Allianz gegen die Salvinis, Orbans, Kaczynski schmieden.“ Für den 20. Oktober hat er sich zum Kaffee mit Emmanuel Macron in Paris verabredet. Im Gespräch enthüllte er, dass er der SPÖ eine Liste, die auch unabhängige Kandidaten enthält, vorschlagen wollte.

Was Kern lange nicht wahrhaben wollte: Die Wahrscheinlichkeit, dass er im Sommer 2019 nicht als EU-Grande nach Brüssel übersiedeln, sondern als einfaches Mitglied des mehr als 700 Abgeordnete umfassenden EU-Parlaments – für fünf lange Jahre – in Straßburg einziehen würde, war groß. Dass der ehemalige Bundeskanzler und ehemalige Konzernchef diese nicht sonderlich attraktive Perspektive in Kauf nehmen würde, um seinem ewigen Widersacher Sebastian Kurz bei der EU-Wahl eine erste Niederlage zuzufügen, die Bereitschaft war dann doch nicht vorhanden.