Wenn die Grippe-Impfrate ein Gradmesser für den Umgang der Gesellschaft mit Atemwegserkrankungen ist, dann ist Österreich wieder dort angelangt, wo es vor der Pandemie war. Die Impfquote, die im ersten Coronajahr auf etwa 20 Prozent kletterte, sank wieder auf rund 8 Prozent, ähnlich wie 2019. Das war und ist in Westeuropa der niedrigste Wert. Die Folge: Österreich hat laut Eurostat die höchste Sterberate bei Influenza, volle Spitäler im Winter, viele Krankenstände.

„Aus Sicht der öffentlichen Gesundheit hätte ich gerne einen anderen Umgang mit Atemwegserkrankungen.“ Zumal sich mit dem hochinfektiösen Sars-CoV-2 nicht irgendein Erreger in den Virenkanon einfügt. Nie zuvor hat es in Österreich so viele Krankenstände gegeben wie im Vorjahr. Die ÖGK registrierte 6,2 Millionen Meldungen, vor der Pandemie waren es zwischen 4 und 4,7 Millionen. Knapp die Hälfte geht auf Atemwegsinfekte zurück.

Hohe volkswirtschaftliche Kosten

Das ist auch volkswirtschaftlich von Bedeutung. Das IHS taxierte die Kosten durch den Arbeitsausfall wegen Atemwegserkrankungen auf 3 bis 4 Milliarden Euro pro Jahr. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft berechnete für Deutschland umgelegt eine ähnliche Größenordnung. Mehrausgaben für das Gesundheitswesen kommen noch hinzu. „Viren schwächen den Körper. Wir belasten das Gesundheitssystem teilweise unnötig“, sagt Reich, die zuvor ärztliche Co-Direktorin in einem Wiener Spital war.

Das öffentlich einsehbare Sari-Dashboard zur Überwachung von Atemwegserkrankungen in Spitälern wies Anfang Jänner 2400 Patienten mit derartigen Infekten aus, rund 27 Prozent hatten Covid. Nun wird Influenza dominanter. Reich: „Wir sehen, wie schnell die Betten belegt sind und die Kapazitäten für Operationen heruntergefahren werden müssen. Das Gesundheitssystem kann es nicht wollen, dass wir mit Atemwegserkrankungen Laissez-faire umgehen.“ Nur was tun?

Für Reich ist die in Österreich schwach ausgeprägte Gesundheitskompetenz „ein Schmerzpunkt“. Diese sei „das Dach, das über allem drübersteht“. Darunter versteht man die Fähigkeit, Gesundheitsinformationen zu verarbeiten und für sich übersetzen zu können. Das fängt beim Verständnis eines Beipackzettels an, betrifft aber auch die Einschätzung, ob eine Impfung gegen Covid oder Influenza für einen sinnvoll ist und wie man Symptome deutet. Bei der jüngst beschlossenen Reform, so die Spitzenbeamtin, sei Gesundheitsförderung erstmals in einer 15a-Vereinbarung mit den Ländern verankert worden. „Wir sind noch nicht da, wo wir sein sollten.“

Neues Gesundheitsziel ist „eine politische Frage“

Als die Gesundheitsziele 2011 beschlossen wurden, war die Vermeidung von Infektionen und schweren Atemwegserkrankungen nur bedingt im Fokus. Braucht es nun, mit Covid, eine Überarbeitung? „Eine Erkenntnis ist, dass es so wie vor der Pandemie nicht mehr sein wird“, sagt Reich. Ein eigener Aktionsplan oder ein neues Gesundheitsziel, um den vielfältigen gesellschaftlichen Folgen derartiger Infekte besser entgegenwirken zu können, sei aber eine „politische Frage“.

Die Verhandlungen der Sozialversicherung zu einem neuen Gesamtvertrag mit der Ärztekammer könnten ein Hebel sein, um zumindest die Belastung für die Spitäler zu reduzieren. „Wir brauchen eine integrierte Versorgung, vor allem bei chronisch Kranken und in Pflegeheimen.“ Das Ziel sei, die Patienten dort zu versorgen, wo sie sind, damit weniger in Spitälern landen. Also zum Beispiel wieder mehr Hausbesuche durch Allgemeinmediziner? „Wir müssen alte Leistungen hinterfragen und neue Leistungen inkludieren – und das heißt: integrierte Versorgung.“