Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Laut jüngstem Frontex-Bericht hat sich die Zahl der Mittelmeerflüchtlinge im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres verdreifacht, während der Zustrom über die Westbalkanroute um 22 Prozent zurückging. Der Großteil der Asylsuchenden, die über das Mittelmeer kommen, nimmt die Ostroute und führt damit fast immer nach Italien, wo seit letztem Herbst die Postfaschistin Giorgia Meloni Ministerpräsidentin ist. Mittlerweile sind die Zahlen weiter gestiegen, vom 1. Jänner bis 11. April zählte man die Anlandung von mehr als 31.000 Menschen. Meloni reagierte zunächst mit einzelnen Maßnahmen (so dürfen Rettungsschiffe nur noch in den nördlichen Häfen anlegen, was deren Kosten erhöht und die Aufnahmekapazitäten verändert), Mitte April musste die Regierung aber den landesweiten Notstand ausrufen. Das erleichtert zunächst interne organisatorische und finanzielle Abläufe, bringt aber auch die Ministerpräsidentin unter Druck: Matteo Salvini, Chef der rechten Lega und vom einstigen Innenminister und Aushängeschild der italienischen Rechtsbewegung von Meloni in die zweite Reihe deklassiert, wittert angesichts der Probleme längst wieder Morgenluft.

In diese Gemengelage fällt nun der nachbarschaftliche Besuch des österreichischen Kanzlers. Karl Nehammer (ÖVP) hat natürlich das Migrations- und Asylthema ganz oben auf die Besprechungsliste gesetzt, man trifft sich hier bei einem zentralen politischen Thema, das auch wieder beim nächsten EU-Gipfel im Juni behandelt wird. "Unsere Abstimmung und die Koordination unserer Positionen sind wichtig", stellte Nehammer noch vor dem Abflug nach Rom fest. Österreich und Italien seien als direkte Nachbarn "enge Verbündete" im Kampf gegen die illegale Migration auch auf europäischer Ebene. Das sollte ausgebaut werden: "Außengrenzländer wie Italien und Binnenländer wie Österreich, die von Sekundärmigration betroffen sind, ziehen an einem Strang." Das sieht auch Meloni so: „Wir teilen die gleiche Linie, die gleiche Vision. Unsere Länder leiden unter dem starken Migrationsdruck und wollen mehr zusammenarbeiten.“

Transit-Frage angesprochen

Daneben sprach man über den grünen Wandel in der EU und den russischen Angriffskrieg; die neuen Szenarien müssten bei der Reform des Stabilitätspakts berücksichtigt werden, so Meloni. Beim Transit ortete man unterschiedliche Positionen, es werde aber an einer Lösung an der Nord-Süd-Achse im Dreieck Bayern-Italien-Österreich gearbeitet.

Doch die Reise nach Rom kann man auch vor dem Hintergrund eines übergeordneten Themas in weitaus größerem Zusammenhang sehen. Längst arbeiten die Strategen an den Weichenstellungen für die Europawahlen im kommenden Jahr, die für die Mitte-Parteien nichts Gutes verheißen. Schon beim letzten Wahlgang verloren die Konservativen und Sozialdemokraten ihre Mehrheit im EU-Parlament und sind seither zum Tauschhandel mit Liberalen und Grünen gezwungen, um die nötigen Mehrheiten zu schaffen. So wie im kleinen Österreich kann es auch in der großen EU zur Stärkung der Ränder kommen – und hier sind es besonders die Rechtsparteien, die nach Pandemie, Inflation und Energiekrise auf Zulauf hoffen.

EVP liebäugelt mit Melonis Fratelli

EVP-Chef Manfred Weber macht kein Hehl daraus, dass er die Kontakte zur neuen italienischen Regierung gut pflegt. Silvio Berlusconi, der schon einmal seine Freundschaft mit Wladimir Putin hervorkehrte, ist ohnehin EVP-Mitglied. Giorgia Meloni ist derzeit Präsidentin der EKR (Europäische Konservative und Reformer), der neben ihrer Fratelli d'Italia auch die polnische Regierungspartei PiS sowie die spanische Vox angehören – ein "Überlaufen" zur EVP würde deren Position stärken, innere Gräben aber vergrößern. Vor wenigen Wochen erst hatte sich Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) für eine Allianz der Fraktionen ausgesprochen, worauf der Erste Vizepräsident des EU-Parlaments, Othmar Karas (ÖVP), eine "strukturierte, vereinbarte Zusammenarbeit" zwischen der Europäischen Volkspartei und der EKR umgehend ausschloss: Die Unterschiede seien größer als die Schnittmenge.

Zumindest bei den Themen Asyl und Migration herrscht, so scheint es, aber schon breite Übereinstimmung.