Hatten Sie seit dem Oktober-Gipfel Kontakt mit Emmanuel Macron?

Johannes Hahn: Mit ihm persönlich nicht, aber ich war laufend in Kontakt mit Amélie de Montchalin, seiner Europa-Staatssekretärin. Nach der Nicht-Entscheidung beim Europäischen Rat gab es auf verschiedenen Ebenen Reaktionen aus anderen Ländern auf das Veto Frankreichs. Ich glaube, alle haben hinterher bemerkt, dass das Verschieben der Beitrittsverhandlungen von Albanien und Nordmazedonien ein schwerer Fehler war.

Die Franzosen haben inzwischen ein neues Positionspapier erarbeitet, mit sieben Clustern.

Vieles davon existiert ja schon. Der Schwerpunkt auf Rechtsstaatlichkeit, die Möglichkeit, den Prozess zurückzunehmen. Aber ohne wirtschaftliche Entwicklung bringt man auch die Rechtsstaatlichkeit nicht voran.

Ist es denkbar, dass eine Reform parallel zu den Verhandlungen mit dem Westbalkan abläuft?

Ja, absolut. Ich habe immer gesagt, dass der EU-interne Reformprozess und der Beitrittsprozess parallel ablaufen müssen. Ich sehe, dass Macron einen Punkt mit Reformen hat – so drängt uns etwa die Einstimmigkeit in der Außenpolitik in die Rolle des Reagierens statt des Agierens. Ich kann ja von den Ländern nicht erwarten, dass sie bis 2030 warten. Da schwindet der Anreiz für Reformen. Ich hoffe daher nicht, dass es zu einer weiteren Verzögerung kommt. Es ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der EU. Bei den beiden Ländern haben wir genau das Gegenteil praktiziert. Ich glaube, es ist derzeit niemand ganz zufrieden mit der Performance, die wir auf globaler Ebene haben, Stichwort Weltpolitikfähigkeit. Gerade da sind wir am Balkan, gleichsam in unserem Innenhof, gefordert!

Wie ist das mit der Türkei? Ohne Einstimmigkeitsprinzip könnte auch die Haltung Österreichs, das gegen weitere Verhandlungen ist, ausgehebelt werden.

Zur Klarstellung: Es geht um Beginn und Ende von Beitrittsgesprächen, das ist fundamental und da stehe ich zur Einstimmigkeit. Aber während so eines Verfahrens brauche ich 200 bis 300 Beschlüsse, da geht es auch ohne. Außenpolitisch gibt es nur zwei Themen, wo ich keine überwältigende Mehrheit sehe: Nahost und Westsahara.

Teil des neuen mehrjährigen Finanzrahmens (MFR), den Sie in Ihrem neuen Ressort verhandeln, ist die Rechtsstaatlichkeit.

Ehrlich gesagt, ist so etwas in einem Beitrittsprozess leichter, da gibt es eine Hebelwirkung. Danach sind die Möglichkeiten eher bescheiden. Wir haben bereits das „Justice Scoreboard“ entwickelt, das die Effektivität und Unabhängigkeit der Justiz in den Mitgliedsstaaten bewertet und jetzt auch den „Rule of Law Review Cycle“ eingeführt, der mit jährlichen Berichten über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten informiert. Das kann als objektive Grundlage für den MFR dienen, sofern es beschlossen wird. Wir denken nicht nur an einzelne Länder, sondern an alle. Wir checken etwa, wie viele Korruptionsurteile es gibt oder wie schnell es zu Gesetzen kommt.

Jetzt kommt die europäische Staatsanwaltschaft und Sie sind auch für die Antibetrugsbehörde Olaf zuständig.

Man muss das jetzt starten, auch wenn einige Länder nicht dabei sind.

Themenwechsel zu Afrika. Wie bekommt man Migration und Entwicklung in den Griff?

Da sehe ich konkrete Möglichkeiten. Keinen „Marshallplan für Afrika“, eher für jedes einzelne Land. Man muss die Gelder bündeln. Beispiel Ägypten: Unser Budget ist 100 Millionen im Jahr, damit sind wir kein Game Changer. Aber europäische Quellen finanzieren dort Projekte um 11,5 Milliarden Euro, das bewirkt viel. Hauptursache für Migration ist die Verzweiflung der Menschen über ihre Lebenssituation. Da geht es um Ökonomie, Bildung, Medizin, Klima, Arbeitsmarkt. Wenn wir Geld geben, ist das eine Investition, wir bekommen also etwas zurück.

Für das neue Budget stoßen Sie auf eine Allianz der Nettozahler, die nicht mehr zahlen wollen. Haben Sie schon eine Strategie?

Ich fahre in die Mitgliedsländer, aber ich komme nicht als Bittsteller. Ich habe die Beschlüsse der Länder und des Parlaments in Zahlen zu gießen. Die Kommission sieht sich als ehrlicher Makler. Wir müssen den Wegfall der Briten als zweitgrößter Nettozahler berücksichtigen. Die zu schützenden Außengrenzen werden durch den Brexit ja nicht kürzer. Die Quadratur des Kreises wird es dann, wenn man nicht mehr Geld ausgeben will, aber alles so bleiben soll wie bisher und man auch noch neue Dinge haben will.

Was kostet der „New Green Deal“?

Wir müssen innerhalb des Budgets Priorisierungen vornehmen, auch im Agrar- und Kohäsionsbereich. Schon heute sind etwa 20 Prozent der Ausgaben klimarelevant, in Zukunft können es 25 Prozent sein. Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedsländer will das, einige würden auch mehr zahlen.

Viele sagen, die Beamten in Brüssel sind zu teuer.

Unsere Personal- und Verwaltungskosten sind 6,8 Prozent des Gesamtbudgets. Da nehme ich es mit jeder nationalen Administration auf.

Sie sind jetzt auch für das Personal zuständig. Stimmt es, dass der Anteil österreichischer EU-Beamter geringer ist, als er sein könnte?

Das ist korrekt. Wir haben bei Jungakademikern eine signifikante Unterrepräsentanz, weil das finanziell nicht mehr attraktiv ist. Wir brauchen aber unterschiedliche Kulturen, weil wir eine gesamt-europäische Sichtweise brauchen. Ich werde das Problem sicher angehen.

Eine Frage zu Ihrem einstigen Arbeitgeber Novomatic: Wie beurteilen Sie die Postenschacher-Geschichten in Österreich?

Bitte um Verständnis: Ich bin dort 2003 ausgestiegen, das kommentiere ich nicht.

Und der Fall Nidec/Secop in Fürstenfeld?

Wir prüfen das. Es ist auch ein Reputationsthema für die EU, wir ärgern uns grün und blau. Die Wettbewerbsbehörde hat sogar externe Berater beauftragt, um die Validität der Businesspläne zu prüfen. Wir müssen sicherstellen, dass es keine Monopolbildung gibt, weil das die Preise beeinflusst, aber es soll natürlich auch der Wirtschaftsstandort abgesichert sein, deshalb gab es ja die Auflagen.