Ganz genau sieben Jahre ist es in diesem Jänner her, dass David Cameron im Bloomberg-Gebäude der City of London vor die Kameras trat, weil er etwas zu „Britannien und Europa“ sagen wollte. Bedrängt von seiner Parteirechten und beunruhigt vom Aufstieg der Unabhängigkeits-Partei Ukip, kündigte der Tory-Premier an diesem denkwürdigen Tag ein Referendum zur weiteren Mitgliedschaft seines Landes in der EU an.

Es sei ihm vollkommen bewusst, sagte Cameron damals, dass das Einverständnis seiner Landsleute mit der EU nur „hauchdünn“ sei – was ja niemand wundern könne bei der Art, in der sich die Union gebärde. Aber das werde er mit einem „neuen Deal“ mit den Partnern schon regeln, versprach der Premier. Er werde dafür sorgen, dass die Briten sich zu guter Letzt aussöhnten mit der EU.

David Cameron
David Cameron © APA/AFP/OLI SCARFF

Tatsächlich war Cameron, als er das sagte, überzeugt davon, dass es zu einer Volksabstimmung überhaupt nie kommen würde. Weil ihn seine liberaldemokratischen Koalitionspartner daran hindern würden, kalkulierte er.

Aber als er bei den Wahlen von 2015 überraschend eine eigene Mehrheit errang, wurde er von den EU-Gegnern seiner Partei (die sich immer gern als „Euroskeptiker“ bezeichneten) an sein Versprechen erinnert. Im folgenden Jahr setzte er „sein“ Referendum an. Es fand im Juni 2016 statt.

Wie es ausging, wissen wir. 48,1 Prozent stimmten für Verbleib in der EU. 51,9 Prozent waren dagegen. Welche Folgen dieses Ergebnis haben würde, konnte damals allerdings niemand ahnen.

Seither hat sich ein Drama ohnegleichen abgespielt in Britannien, das dreieinhalb Jahre lang Chaos und Konfusion produzierte, Whitehall und Westminster komplett durcheinander wirbelte, massenweise Menschen auf die Strassen trieb und alle Lebensbereiche der Briten berührte. Dieses Drama liess Richter zu „Volksfeinden“ werden, zwang Bischöfe auf die Knie, um Frieden für ihr Land zu erflehen, und erwies sich als persönliche Herausforderung sogar für die Queen.

Parlaments-Schlachten

Es löste endlose, bittere Parlaments-Schlachten aus und machte einen unbotmässigen Unterhaus-Speaker zur globalen Berühmtheit. Alle anderen Themen verdrängte der „Brexit“ getaufte EU-Austritt mit den tausend Fragen, die er aufwarf, mühelos aus den täglichen Schlagzeilen. Die zähen Verhandlungen über die Art des Abgangs verfolgte in allen nur denkbaren Einzelheiten alle Welt.

Ein EU-Gipfel nach dem anderen

EU-Gipfel jagten einander, Fristen wurden in letzter Minute verlängert. Die Autobahn nach Dover wurde für alle Fälle zum Auffanglager für gestrandete Lastwagen umgerüstet.

Jeder der 1.317 Tage, die seit dem Referendums-Schock vergangen sind, hat neue Überraschungen gebracht. Dass Cameron unverzüglich abtreten musste, nach seiner historischen Fehleinschätzung, lag natürlich auf der Hand.

Boris Johnson, der die Brexit-Kampagne angeführt hatte und als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge galt, stolperte aber gleich mal, beim Anlauf zur Spitze. Statt seiner landete die vormalige Innenministerin Theresa May in No 10 Downing Street.

Theresa May
Theresa May © AP

May, eine eher dröge Politikerin, die sich im früheren Job vor allem durch eine harte Linie gegen Migranten ausgezeichnet hatte, suchte zunächst einmal vergessen zu machen, dass sie noch im April desselben Jahres verkündet hatte, es sei „eindeutig in unserem nationalen Interesse, Mitglied der Europäischen Union zu bleiben“. Jetzt, nach dem Referendum, erkannte sie das „nationale Interesse“ darin, Grossbritannien aus der EU zu führen – koste es, was es wolle, um jeden erforderlichen Preis.

Sie wollte die „Brexit-Premierministerin“ sein. Dummerweise hatten die siegreichen Brexiteers aber keinen Plan für ihren Brexit entwickelt. Welche Gestalt die Lösung von der EU annehmen sollte: Darüber herrschte in jenem Sommer vollständige Unklarheit. Niemand ausser Ukip-Chef Nigel Farage hatte schliesslich vorm Referendum verlangt, es zu einem totalen Bruch mit „Europa“ kommen zu lassen.

„Absolut niemand spricht davon, unseren Platz im Binnenmarkt der EU zu gefährden“, beteuerte etwa der konservative Europa-Abgeordnete und Co-Stratege Johnsons, Daniel Hannan. Johnson seinerseits hatte noch als Londoner Bürgermeister erklärt: „Ich würde für den Binnenmarkt stimmen. Ich bin für den Binnenmarkt.“

Nach dem Referendum, als sich die Tory-Hardliner, die bis dahin nur eine Randgruppe der Partei gewesen waren, unter Verweis auf „den Volkswillen“ zur neuen revolutionären Garde der Konservativen aufschwangen, rückte May eilfertig auf deren Positionen vor. Im Januar 2017 entschied sie, ein Verbleib in Binnenmarkt und Zollunion der EU „würde bedeuten, dass wir die EU gar nicht verlassen haben“.

Das war die Geburtsstunde eines „harten“ Brexit. Und der entsprechenden Rhetorik: Lieber wolle sie, warnte May, „gar keinen Deal“ als einen „schlechten“ Deal mit den Europäern. Zwei Monate später schickte sie den formellen Brief zur Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft nach Brüssel, mit dem die vorgeschriebene zweijährige Verhandlungsphase begann.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Mays autokratisches Vorpreschen schon zu einem ersten Zusammenprall mit der Justiz geführt. Denn auf Antrag einer empörten Geschäftsfrau namens Gina Miller hatten britische Richter entschieden, erst einmal müsse das Parlament befragt werden, bevor irgendwelche Zugbrücken hochgingen am Ärmelkanal.

Für Theresa May war das Parlament in keiner Weise befugt, ihr in die Quere zu kommen, ihre Brexit-Keise zu stören. Die Richter jedoch stellten sich auf die Seite der Volksvertretung, also gegen die Exekutive. Zur Strafe wurden sie von der Rechtspresse als „Volksfeinde“ denunziert.

Das war der Anfang einer Hetz-Kampagne, in deren Verlauf sich später auch rebellische Abgeordnete als „Meuterer“ und „Verräter“ steckbriefartig auf Zeitungs-Frontseiten wieder fanden. Ein ehedem respektables rechtskonservatives Blatt wie der Daily Telegraph wurde zum Rammbock blinder Brexit-Manie, zur Propaganda-Maschinerie.

Der gehässige Ton ergriff auch von der Regierungspartei selbst Besitz. Brexit-Hardliner, die sich in der Folge stolz als „die Spartaner“ präsentierten, beschimpften moderate Parteikollegen als „Kollaborateure“ und „Dissidenten“. Diese wiederum warfen ihren innerpartelichen Gegnern vor, sich wie „Headbanger“ und „Extremisten“ aufzuführen.

Hilflos

Hilflos steuerte Theresa May durch dieses Minenfeld, bei den folgenden Verhandlungen mit Brüssel und beim Versuch, Rückhalt im Unterhaus zu gewinnen. Ihr zäher, repetitiver, roboterhafter Stil trug ihr den Spitznamen „Maybot“ ein. Ihr endlos wiederholtes Motto „Brexit bedeutet Brexit“ beeindruckte bald schon niemanden mehr.

Als sie 2017 in der Hoffnung auf eine breitere parlamentarische Basis Neuwahlen ausschrieb, verlor sie stattdessen, was sie an Mehrheit besessen hatte. Das war die Sternstunde der nordirischen Unionisten, denen sich May damals auslieferte, weil sie sich mit den Pro-Europäern nicht verständigen wollte.

Zwei qualvolle Jahre lang, bis zum Sommer 2019, vermochte sie sich immerhin noch im Amt zu halten, weil sich ihre Partei auf niemand anderen einigen konnte. Tausende Mal wurde sie totgesagt.

In diese immer tumultösere Phase fielen drei vergebliche Versuche, einen mit Brüssel arrangierten Austrittsvertrag durchs Parlament zu bugsieren. Während sie versuchte, die Kröte eines ihr von der EU aufgetischten irischen „backstop“ zu schlucken, ohne von einem harten Brexit zu lassen, begannen Brexit-Gegner zu Hunderttausenden auf den Strassen Londons aufzumarschieren. „Wir wollen unsere Zukunft wiederhaben“, skandierten sie wütend.

Dies war die Zeit, in der auch im Unterhaus die Forderung immer lauter wurde, dem „Brexit-Alptraum“ um Himmels willen ein Ende zu bereiten. Und in der umgekehrt die Brexiteers schworen, niemals mehr „Vasallen der EU“ sein zu wollen.

"Beschissener" Austritts-Deal

Mit ihrem „beschissenen“ Austritts-Deal, klagte Boris Johnson, als er nach einer Schlüssel-Sitzung im Landhaus Chequers als Mays Aussenminister zurücktrat, lege die Regierungschefin ihrem Land den reinsten „Selbstmord-Gürtel“ an.

Boris Johnson
Boris Johnson © APA/AFP/POOL/KEVIN LAMARQUE

Es waren die Tage, in der die schon beim Referendum sichtbar gewordene Kluft in der britischen Politik und in der weiteren britischen Bevölkerung sich mit aller Macht manifestierte. In der sich die Atmosphäre beängstigend auflud, EU-Bürger erste Deportations-Drohungen erhielten und für den Fall eines „No-Deal“-Brexit von der Regierung Extra-Fähren zum Anstransport von Medikamenten und Lebensmitteln gebucht wurden.

Ein Heer an Ministerialbeamten, zeigte sich, war zu diesem Zeitpunkt schon zur Notstandsplanung abgestellt worden. Die Briten erfuhren, dass bei einer abrupten Abkehr von der EU gegebenenfalls kein frisches Trinkwasser mehr zur Verfügung stehe und dass die Verbindung zum Kontinent ganz abreissen könnte.

Das Militär, hiess es, stehe bereit zur Sicherung heimischer Tankstellen und Läden. Und die Queen werde im Falle von Unruhen und Krawallen an einen geheimen Ort in der Provinz evakuiert. Für Brexit-Hardliner war dies alles üble Propaganda der „Remoaners“, eine „Angstmacher-Kampagne“ all der Jammerlappen, denen vor Unabhängigkeit bange war.

Dennoch deckten sich immer mehr nervös gewordene Briten mit Vorräten aus der EU und mit ausländischen Pässen – vor allem irischen – ein. Firmen klagten, sie seien in keiner Weise vorbereitet auf ein Abgang Knall auf Fall. In der Autoindustrie wurden „provisorische“ Schliessungen und bei Grossbanken erste Abwanderungen gemeldet.

Und aus Schottland, das gegen Brexit gestimmt hatte, kamen die ersten Warnungen, ein harter Brexit werde zu einem neuen schottischen Unabhängkeits-Referendum (IndyRef2) führen. Überall zeigten sich Risse, bröckelte der Zusammenhalt.

Dass ganze Familien sich überm Brexit entzweiten, dass kaum noch eine Debattenrunde friedlich über die Bühne ging und Westminster zum reinsten Hexenkessel wurde, sorgte für wachsende Besorgnis im Staat.

Die höchsten Kirchenfürsten des Landes initiierten, drei mal am Tag, Gebetsstunden für den Frieden im ruhelos gewordenen „Brexitannien“. Selbst Königin Elizabeth II. mahnte ihre Untertanen in einer kaum verschlüsselten Botschaft, einander doch bitte nicht länger zu bekriegen, sondern „zusammen zu kommen“. Es sei unerlässlich, auch im Streit „unterschiedliche Standpunkte zu respektieren“, sagte sie.

Zwischen Sommer und Winter vorigen Jahres strebte die Brexit-Krise in immer schnellerem, immer fieberhafterem Takt ihrem Höhepunkt entgegen. Theresa May trat in Tränen ab. Johnson wurde mit etwas Verspätung Tory-Chef und Premier – und warf prompt 21 Pro-Europäer seiner Fraktion, darunter verdiente Ex-Minister, aus der Partei.

Mit einem Kabinett loyaler Brexiteers und dem genialen Referendums-Strategen Dominic Cummings als seinem Chefberater machte „Boris“ deutlich, wie er den „Alptraum“ zu beenden plante. Nämlich mit einem Appell ans Brexit-müde Wählervolk, den Brexit endlich „hinter sich zu bringen“.

Nach einer Reihe letzter verzweifelter parlamentarischer Aufstände, ein paar spektakulären Kraftproben der Regierung mit Unterhaus-Speaker John Bercow und einer scharfen Zurechtweisung durchs Oberste Gericht wegen verfassungswidriger Methoden gelang es Johnson im Oktober endlich, sich grünes Licht für Neuwahlen zu verschaffen.

Weil er sich selbst, in völliger Verblendung, als nächsten Premierminister sah, gab der „rote Brexiteer“ und Labour-Chef Jeremy Corbyn den Weg für Wahlen frei. Johnson aber räumte in den Brexit-freundlichen Labour-Hochburgen Nord- und Mittelenglands ab und holte sich eine satte 80-Sitze-Mehrheit.

Der Rest ist ins Heute herüber reichende Geschichte. Die Brexiteers sind am Ziel. Der Austritt ist besiegelt. An diesem Freitagabend trennt sich Grossbritannien, das 47 Jahre lang EU-Mitglied war, von seinen bisherigen Partnern – nach dreieinhalb Jahren bitterster Auseinandersetzungen und Agonie.