War es unvermeidlich, dass die Briten „Europa“ wieder den Rücken kehren würden, um ihrer eigenen Wege zu ziehen? Viele, auch im Vereinigten Königreich selbst, fragen sich das nun, da die britische Mitgliedschaft im europäischen „Club“ nach 47 Jahren und 31 Tagen erlischt.

Die Frage ist verständlich. Ihr Insel-Dasein, die frühere Weltmachts-Rolle, das Empire, die Eigenart ihrer Gesellschaft hat die Briten immer von anderen Nationen unterschieden. Selbstverständlich haben Geschichte und Geografie die Mentalität hierzulande geprägt.

Das sah schon Charles de Gaulle so, als er den Antrag Londons auf Aufnahme in den Gemeinsamen Markt 1963 erstmals sabotierte. Mit ihren „sehr speziellen, sehr originellen Gewohnheiten und Traditionen“ würden die Nachbarn sich in Europa nie richtig einpassen, prophezeite er damals.
Als Großbritannien dann zehn Jahre später doch dazu stieß, ging es bei der Teilhabe am „europäischen Projekt“ in der Tat weniger um historische Notwendigkeit oder kulturelle Identifizierung, als um einen pragmatischen Schritt aus vorwiegend kommerziellem Interesse. Londons liberale Tageszeitung „Guardian“ erschien zum ersten Jänner 1973 mit der Überschrift: „Wir sind drinnen – aber ohne Feuerwerk.“

Eine Hälfte war glücklich, die andere nicht

Recht zwiespältig sind die Briten dem „Projekt“ denn auch von Anfang an gegenüber gestanden. Umfragen aus der Zeit des Beitritts zeigen, dass 38 Prozent mit der Mitgliedschaft glücklich waren und 39 Prozent nicht. 23 Prozent war es egal.

43 Jahre später, bei David Camerons EU-Referendum von 2016, sollte man bezeichnenderweise auf fast identische Proportionen kommen. Ambivalenz war immer charakteristisch fürs britische Verhältnis „zum Kontinent“.
Zwischendurch, in diesem knappen halben Jahrhundert, ging es auf und ab mit Ressentiments gegen und Sympathien für die EU auf der Insel. In Phasen wirtschaftlicher Stabilität nahm das Interesse zu.

Die "Eiserne Lady"

Die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher selbst war eine starke Befürworterin des europäischen Binnenmarkts. Anders als die heutigen Hardliner ihrer Partei hielt Thatcher es immer für unerlässlich, im größten Markt der Welt mit dabei zu sein.

Erst danach, als „Europa“ zur Währungseinheit und zu engerer politischer Verzahnung drängte, wandte sie sich ebenso vehement gegen den „Club“. Sie und ihr Nachfolger John Major begannen, Brüssel die Stirn zu bieten und Sonderbedingungen auszuhandeln. Ausgerechnet Major, der sein Land „im Herzen Europas“ hatte ansiedeln wollen, boykottierte in den 90er-Jahren wegen beginnender scharfer Gegensätze die Gremien der EU.
Eine Geschichte immer neuer Konflikte mit Brüssel überschattete von den 90er- Jahren an das Verhältnis. Für eine britische Regierung nach der anderen wurde die EU-Politik zu einer Frage trotziger Selbstbehauptung gegenüber „dem Rest“.

Niemand in Downing Street und Whitehall machte sich wirklich die Mühe, den Nutzen der EU für Großbritannien, den Sinn der Mitgliedschaft, zu erklären. Eine mächtige anti-europäische Rechtspresse, wie sie in dieser Form nirgendwo sonst existiert in Westeuropa, bot sich als Megaphon für feindselige Botschaften an.

Trommelfeuer der Medien

Hätte ohne dieses Trommelfeuer der Medien sich ein anderes Verhältnis zur EU entwickeln können? Hätte couragierteres Auftreten eines anfänglichen EU-Stars wie Tony Blair zu einem anderen Ergebnis geführt?
„Ganze Generationen politischer Führer haben versäumt, der Bevölkerung die Realitäten und die Zentralität unserer Mitgliedschaft auseinander zu setzen“, klagt heute der frühere britische EU- und Washington-Botschafter Sir Nigel Shinewald. „Sie arrangierten sich lieber mit der Little-England-Propaganda britischer Medien, als sich gegen sie zu stellen.“
Den Rest habe dem „europäischen Projekt“ auf der Insel die unheilvolle Konstellation der letzten zwölf Jahre gegeben, urteilt Shinewald: „Die Auswirkung der Finanzkrise, die Anti-Establishment-Stimmung, das offene Tor, das Camerons leichtfertiges Versagen als Führungsfigur den Brexiteers bot.“ Plus, nicht zu vergessen, die tief sitzende Abneigung des Oppositionsführers Jeremy Corbyn gegenüber der EU. Der Mangel an Opposition.

"Der Brexit war nie unvermeidlich"

Dieser Konstellation, und einer geschickt operierenden Brexit-Riege, schreibt der Ex-Botschafter zu, dass man nun am Ausgang steht. „Dabei“, sagt er, „war der Brexit nie unvermeidlich.“ Alles hätte auch anders kommen können. Das erwarteten ja anfangs auch die Brexiteers.
Vor allem in einer Zeit, in der EU-Recht und gemeinsamer Anspruch britischen Bürgern, Konsumenten, Umweltschützern, Gewerkschaftern, Studenten zugute kam in allen möglichen Bereichen. In der jungen Briten Freizügigkeit in Europa, die Boris Johnson nun beenden will, immer selbstverständlicher geworden ist.

Eins der interessantesten Dinge beim Ringen um den Brexit in den letzten drei Jahren war zweifellos, dass britische Pro-Europäer erstmals eine kollektive, eine vernehmliche Stimme fanden. Dass sie einen klaren Willen bekundeten, sich mit „Europa“ identifizierten, Banner schwenkten, zu Hunderttausenden auf die Strasse zogen.

An der mächtigen Niederlage, die sie erlitten haben, wird das nichts ändern. Ihr Aufstand kam zu spät.
Heute geht dieses Kapitel britischer Geschichte zu Ende. Aber die Saat künftigen Engagements ist in der unverhofften Mobilisierung der letzten, turbulenten Jahre angelegt.
Gelöst ist die Frage des britischen Verhältnisses zu „Europa“ keineswegs.