Ungarns regierungsfreundliche Medien feiern das Gipfelergebnis als vollen Erfolg für Ministerpräsident Viktor Orbán. „Drei Milliarden Euro mehr als ursprünglich vorgeschlagen“ und ein „Versprechen“ von Kanzlerin Angela Merkel, das Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn während der deutschen Ratspräsidentschaft zu „beenden“, das seien die greifbaren Zugeständnisse an Ungarn, schrieb das Nachrichtenportal origo.hu. Orbán selbst erklärte nach dem EU-Gipfel: Wir haben erfolgreich alle Versuche abgewehrt, den Zugang zu EU-Mitteln an Rechtsstaatlichkeitskriterien zu binden.

Dieser Darstellung widerspricht das Bild, das westeuropäische Politiker und Medien zeichnen. Da ist nirgends von einem Versprechen der Kanzlerin die Rede, das Artikel-7-Verfahren zu beenden. Das kann sie gar nicht, höchstens kann sie ihren Einfluss geltend machen, um eine Lösung zu erreichen. Wie eine hochrangige ungarische Regierungsquelle der Kleinen Zeitung sagte, ist genau das versprochen worden. Man habe ein Zugeständnis gemacht, „indem wir den Brüsseler Kompromiss akzeptierten. Im Gegenzug wurde uns versprochen, das Art.-7-Verfahren zu beenden.“

Etwas kryptisch äußerte sich der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert: „Ungarn hat sich bereit erklärt, im Artikel-7-Verfahren alle notwendigen Schritte zu tun, damit es im Rat zu einer Entscheidung kommen kann.“ Die deutsche Ratspräsidentschaft habe zugesagt, „im Rahmen ihrer Möglichkeiten diesen Prozess voranzubringen“.

Bindung an rechtsstaatliche Kriterien ohne Vetorecht

Zur Rechtsstaatlichkeit heißt es in dem Papier, auf das sich die 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel einigten: „Der Europäische Rat unterstreicht die Bedeutung des Respekts für die Rechtsstaatlichkeit.“ Und unter Punkt 23 im „Annex“ des Beschlusses: „Vor diesem Hintergrund wird ein Konditionalitätsregime eingeführt, um das Budget und Next Generation EU (also das 750-Milliarden-Paket zur wirtschaftlichen Bewältigung der Covid-19-Krise) zu schützen. In diesem Kontext wird die Kommission im Fall von Verstößen Maßnahmen zur Annahme durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit vorschlagen.“

Das klingt wie eine Bindung der Mittelvergabe an rechtsstaatliche Kriterien ohne Veto-Recht. Ungarn und Polen könnten also Strafen nicht abblocken. Aber im Text steht wenig Konkretes. Was Ungarn und Polen erreicht haben, ist wohl vor allem das: noch keine echte Festlegung der Regeln.

„Den anderen war wichtig, dass es einen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus und eine qualifizierte Mehrheit darin gibt“, sagt eine hochrangige ungarische Regierungsquelle. „Uns war wichtig, dass der Rat der Ministerpräsidenten etwaige Sanktionen absegnen muss.“ Das war freilich immer schon so geplant und nicht etwas, das Ungarn erkämpft hätte.

Eine qualifizierte Mehrheit, aber wofür genau?

Beim Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ging es auf dem Gipfel auch darum, was „qualifizierte Mehrheit“ bedeuten soll. Eine qualifizierte Mehrheit, um Sanktionen zu beschließen? Oder um Sanktionen zu verhindern? Letzteres würde es viel schwerer machen, einer Strafe zu entgehen. Im Dokument ist all das einfach weggelassen. Auf die Details wird man später zu sprechen kommen – „rasch“, wie es im Text heißt, soll der Europäische Rat sich erneut mit dem Thema befassen.

Da hängt also viel davon ab, welche Positionen Deutschland in dieser Frage einnimmt. In Medienberichten vom Gipfel hieß es, Kanzlerin Merkel habe sich in Sachen Rechtsstaatlichkeit auf die Seite Polens und Ungarns gestellt (sich also für eine „weiche“ Variante ausgesprochen). Tatsache ist, dass Ungarns Kanzleramtsminister Gergely Gulyás und die Vizepräsidentin der Regierungspartei Fidesz, Katalin Novák, vor dem Gipfel in Berlin waren, um sich mit den Unionsparteien auszutauschen. Da mag es also Absprachen gegeben haben.

Und Orbán hat sich trotz Vetodrohungen vor dem Gipfel in Brüssel als Teamplayer gezeigt, der in fast allen Fragen die deutschen Positionen unterstützte. Da mag er sich in Berlin politisches Kapital erworben haben.