Seit 12.30 Uhr (11.30 MESZ) sei die Stadt "vollständig" von russischer Militärpräsenz befreit, sagte Selenskyj in einem in Online-Netzwerken veröffentlichten Video. "Dank an unser Militär!" Die strategisch wichtige Stadt Lyman war seit dem Frühjahr von Moskaus Truppen besetzt.

Am Samstag hatte die ukrainische Armee die Stadt umzingelt und mehrere Tausend russische Soldaten eingekesselt – später gab das russische Verteidigungsministerium den Rückzug aus der Stadt bekannt. Die Rückeroberung Lymans ist der erste größere militärische Sieg der Ukraine in den am Freitag von Russland annektierten Gebieten. Kreml-Chef Wladimir Putin hatte die vom Westen als völkerrechtswidrig bezeichnete Annexion der Regionen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson am Freitag vollzogen.

Annexion

Mit der Annexion hatte die russische Führung klargemacht, dass sie Angriffe auf diese Regionen künftig als Angriffe auf russisches Staatsgebiet betrachten werde. Für diesen Fall hatte die Nummer zwei des russischen Sicherheitsrates, Ex-Präsident Dmitri Medwedew, mit dem Einsatz "strategischer Atomwaffen" gedroht.

Experten: Putin hat den Rückzug aus Lyman selbst angeordnet

Die Militärexperten des renommierten Institute for the Study of War sehen in dem Rückzug russischer Truppen aus der strategisch wichtigen Stadt Lyman in der Ostukraine "mit ziemlicher Sicherheit" eine bewusste Entscheidung von Russlands Präsident Wladimir Putin. Nicht die Militärkommandos hätten entschieden, dass die Frontlinien nahe der Städte Kupjansk oder Lyman nicht verstärkt werden, sondern der Präsident selbst, hieß es in einer ersten Analyse.

Was bedeutet das?

Es deute darauf hin, dass sich Putin vielmehr um die Sicherung strategischer Gebiete in den Regionen Cherson und Saporischschja kümmern wolle. Lyman liegt in der Region Donezk.

Russland hatte nach international nicht anerkannten Scheinreferenden am Freitag die vier Regionen Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja annektiert – obwohl es sie nur teilweise kontrolliert. Im Norden des Gebiets Donezk musste der Kreml am Samstag mit dem Verlust von Lyman eine weitere militärische Niederlage hinnehmen. Ukrainische und russische Quellen wiesen übereinstimmend darauf hin, dass die russischen Streitkräfte ihre Stellungen in den Regionen Cherson und Saporischschja weiter verstärkten, schrieben die Experten des Institute for the Study of War weiter.

Sie berichteten zudem von einem "gescheiterten Bodenangriff" russischer Truppen auf den Ort Kosatscha Lopan im nördlichen Gebiet von Charkiw. Ukrainische Soldaten hätten den Angriff laut Generalstab nahe der russischen Grenze abgewehrt. Solche Angriffe deuteten darauf hin, dass Putin wahrscheinlich weiter das Ziel verfolge, die Kontrolle über Gebiete jenseits der von ihm rechtswidrig annektierten Regionen zurückzugewinnen – anstatt Soldaten gegen die ukrainische Offensive im Donbass einzusetzen.

Expertin: Popularität Putins in Russland schwindet zusehends

Die Popularität von Kremlchef Wladimir Putin in Russland schwindet zusehends. Grund dafür ist laut der britischen Investigativ-Journalistin Catherine Belton die Teilmobilisierung, die der russische Präsident "eigentlich nicht wollte". Seien am Anfang des Ukraine-Krieges vor allem ethnische Minderheiten des Riesenreiches im Einsatz gewesen, so würden jetzt auch junge Russen rekrutiert, erklärte die Autorin und Russland-Expertin im APA-Interview.

Lediglich ältere Russen seien mehrheitlich bereit, in den Krieg zu ziehen, meinte die Autorin des Bestsellers "Putins Netz". Diese seien aber oft schlecht trainiert und auch nicht derart motiviert wie ihre Gegner, die Ukrainer, die für die Freiheit ihres Landes kämpften. Da nun das eigene Leben vieler Russen bedroht sei, wachse der Widerstand zusehends. Die Menschen hätten jetzt die Entscheidung, entweder gegen den Krieg aufzustehen, zu protestieren und dafür möglicherweise ins Gefängnis zu wandern, oder in die Ukraine geschickt zu werden und dort eventuell zu fallen. Notwendig sei die unbeliebte Teilmobilisierung geworden, weil auf russischer Seite immer mehr Verluste zu beklagen seien. Belton sprach von mittlerweile bis zu 40.000 gefallenen Russen - sie bezog sich dabei auf Angaben des britischen Außenministeriums.

Zu Beginn des Krieges hätte niemand auf russischer Seite gedacht, dass sich die Kämpfe derart in die Länge ziehen würden, viele meinten sogar, dass es nach dem russischen Einmarsch lediglich ein paar Tage dauern würde, bis der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zurücktreten und die Ukraine besiegt sein werde. Es zeigte sich aber, dass die Ukraine - auch dank westlicher Hilfe - viel wehrfähiger als gedacht sei. Außerdem gebe es in der russischen Armee zahlreiche Probleme wie Korruption, mangelnde Ausrüstung und schlechte Logistik.

Ein weiteres Problem für den Kreml sei, dass die Unterstützung seitens Chinas und Indiens schwinde und es im Inlandsgeheimdienst FSB, der "einzigen Institution, die noch funktioniert", so Belton, "patriotische Kräfte" gebe, die Putin als zunehmende Gefahr für ihr Land sähen. Dort gebe es durchaus Leute, welche sich nach einem Regimewechsel eine erneute Kooperation mit dem Westen bis hin zu einer verstärkten Integration vorstellen könnten. Auch viele junge Russen hegten Hoffnungen, dass sich die Beziehungen zu Europa und den USA wieder normalisierten.

Mit den immer wieder auftretenden Gaslieferstopps nach Europa solle der Druck auf die dortige Bevölkerung erhöht werden, sagte Belton. Die Drohung mit Atomwaffen diene dazu, Angst auszulösen. Ziel des Kremls sei es, die Einigkeit der Europäer zu unterlaufen, auch durch vermehrte Streuung von Desinformation in sozialen Netzen. So sei es auch die Erzählung Moskaus, dass die USA vom Krieg profitieren würden. Das sei aber nicht der Fall, denn auch dort würden die Energiepreise steigen, außerdem würde die Unterstützung Kiews Unsummen verschlingen. In Europa sei es notwendig, erklärte Belton, die Menschen wegen der rasant steigenden Energiepreise zu unterstützen und die Energieimporte nach Europa zu diversifizieren.

Von Verhandlungen mit Putin "nach seinen Vorstellungen" riet Belton ab. Denn es sei zu befürchten, dass der Kremlchef danach nicht aufhöre, weitere Ansprüche, etwa auf das Baltikum oder andere europäische Territorien zu stellen. Die Rede Putins am Freitag bezeichnete sie als "extrem", offenbar habe sich dieser während der coronabedingten "Isolation" radikalisiert. Deshalb teilte Belton Bedenken, dass es nach Putin noch schlimmer werden könnte, nicht unbedingt.

Am Samstagabend trat Belton, die im Rahmen des Vienna Humanities Festivals 2022 und der Wiener Vorlesung in der Bundeshauptstadt ist, im Festsaal des Wiener Rathauses auf. Eröffnet wurde die Veranstaltung von Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ). Das Festival unter dem Motto "The Age of Uncertainty - Zeitenwende" dauert noch bis einschließlich Sonntag. Organisiert wird die Veranstaltung, die am Dienstag begonnen hat, vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM).