Die russische Führung hat eine Aufklärung der mutmaßlichen Sabotage an der Ostseepipeline Nord Stream gefordert und die USA als Hauptverdächtigen dargestellt. "Es ist aber offensichtlich, dass der Hauptnutznießer (der Pipeline-Explosionen), vor allem wirtschaftlich, die USA sind", sagte der Sekretär des nationalen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, der Nachrichtenagentur Interfax zufolge am Freitag auf einer Sitzung mit den Geheimdienstchefs der GUS-Staaten.

Russland fordere nach den Lecks in den Nord-Stream-Pipelines eine gründliche internationale Untersuchung, sagte Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow. Er wollte sich nicht zu Aussagen des Chefs des russischen Auslandsgeheimdiensts äußern, wonach Russland über Material verfüge, das auf eine Rolle des Westens bei den Löchern in den Ostseepipelines hinweise.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hält Spekulationen über die Lecks an den Nord-Stream-Pipelines für verfrüht.

Gas-Austritt geringer

Die schwedische Küstenwache hat eine Veränderung bei einem der vier Lecks an den Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee beobachtet. Der Gas-Austritt oberhalb des kleineren der beiden Lecks in der Ausschließlichen Wirtschaftszone Schwedens - dem über Nord Stream 2 - habe an Umfang abgenommen, gehe aber nach wie vor weiter, schrieb die Behörde in einem Update zu den Vorfällen. Dies habe die Küstenwache aus der Luft beobachtet.

Größerer Sicherheitsabstand für Schiffe

Außerdem wies die Behörde darauf hin, dass Schiffe in den Gebieten nun einen Sicherheitsabstand von sieben Seemeilen (knapp 13 Kilometer) statt wie bisher fünf Seemeilen halten sollten. Dies stand so auch in den Navigationshinweisen der schwedischen Schifffahrtsbehörde für Handelsschiffe in der Region.

"Hochwirksame Sprengsätze"

Vor der Dringlichkeitsdebatte des UNO-Sicherheitsrats wegen der Lecks an den Nord-Stream-Gaspipelines haben Dänemark und Schweden den Rat mit aktuellen Informationen versorgt. Seismologische Institute hätten eine Stärke von 2,3 und 2,1 gemessen, was "vermutlich einer Sprengladung von mehreren hundert Kilogramm" entspreche. Alle verfügbaren Informationen deuteten darauf hin, dass die Explosionen vorsätzlich herbeigeführt worden seien.

In die Schätzung seien auch die von diversen Messstationen registrierten seismischen Signale einbezogen worden, hieß es in dem Bericht weiter. Der Nato-Rat, die EU und Vertreter unter anderem der Regierungen Schwedens, Dänemarks und Polens gehen von einer vorsätzlichen Tat als wahrscheinlichstem Grund für die Lecks aus. Die deutsche Bundesregierung hält sich mit solchen Äußerungen bisher zurück.

Begutachtung schon am Wochenende

Weitere Informationen erhofft sich die Bundesregierung laut "Spiegel" von einer genaueren Untersuchung der Pipelines Nord Stream 1 und 2. In Sicherheitskreisen hieß es, dass Taucher oder ein ferngesteuerter Roboter möglicherweise schon am Wochenende die Schäden begutachten könnten. Dann könnten im besten Fall erste Rückschlüsse auf die Art der Explosion unter Wasser und den dabei eingesetzten Sprengstoff gezogen werden.

An den von Russland nach Deutschland führenden Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 waren in den vergangenen Tagen auf schwedischem und dänischem Gebiet in der Ostsee mehrere Lecks festgestellt worden. Die Leitungen sind zwar nicht in Betrieb, aber aus technischen Gründen mit Gas gefüllt.

Putin spricht von "Terroranschlag"

Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Lecks an den Ostsee-Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 als einen "Akt des internationalen Terrorismus" bezeichnet. Nach Kremlangaben sprach Putin am Donnerstag bei einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan von einer "beispiellosen Sabotage" gegen die Gasleitungen von Russland nach Deutschland.

Russland habe dazu für diesen Freitag eine Dringlichkeitsdebatte im UN-Sicherheitsrat beantragt, sagte Putin demnach

Nato: "Sabotageakt"

Die Nato geht von einem Sabotageakt an den Nord-Stream-Pipelines aus und zeigt sich im Fall von Angriffen auf kritische Infrastruktur zur Gegenwehr entschlossen. "Alle derzeit vorhandenen Informationen deuten darauf hin, dass dies das Ergebnis eines absichtlichen, rücksichtslosen und unverantwortlichen Akts der Sabotage ist", erklärte das Militärbündnis mit Blick auf die Lecks an den Gaspipelines in der Ostsee.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg betonte: "Jedem vorsätzlichen Angriff auf die kritische Infrastruktur von Verbündeten wird mit einer geschlossenen und entschlossenen Antwort begegnet." Ein möglicher Verantwortlicher wird in dem Statement nicht genannt. Bereits am Vortag hatte auch Stoltenberg – ebenfalls ohne Schuldzuweisung – von Sabotage gesprochen.

"Abschrecken und abwehren"

Man habe sich dazu verpflichtet, sich auf den "Einsatz von Energie und anderer hybrider Taktiken durch staatliche und nicht-staatliche Akteure" vorzubereiten, sie abzuschrecken und abzuwehren. Die Beschädigung der beiden Pipelines Nord Stream gebe Anlass zu großer Sorge. Die Lecks gefährdeten die Schifffahrt und verursachten erhebliche Umweltschäden. "Wir unterstützen die laufenden Ermittlungen zur Klärung der Schadensursache."

Viertes Gasleck entdeckt

Die schwedische Küstenwache hat ein viertes Gasleck an den beschädigten Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee entdeckt. An den russischen Pipelines waren Anfang der Woche innerhalb kurzer Zeit in dänischen und schwedischen Gewässern zunächst drei Lecks entdeckt worden. Die genaue Ursache ist unklar. Westliche Sicherheitsexperten gehen aber von Sabotage aus. Seitens der EU wurden Tests der kritischen Infrastruktur angekündigt.

Experte vermutet Russland als Urheber

Der deutsche Sicherheitsexperte Johannes Peters hält es für "relativ unwahrscheinlich", dass die Schäden an den Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 durch einen Unfall entstanden sein könnten. Er vermutet Russland hinter dem mutmaßlichen Sabotageakt. "Das wirkt vordergründig natürlich etwas widersinnig, die eigenen Pipelines zu zerstören", sagte der Experte vom Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel am Donnerstag. Es gebe aber durchaus gute Gründe dafür.

Ein Grund sei sicherlich, ein "starkes Signal" an Europa zu senden, vor allem an Deutschland und Polen, dass man dasselbe auch mit Pipelines machen könnte, die für unsere Versorgungssicherheit deutlich wichtiger seien, etwa die Pipelines aus Norwegen, so Peters im ARD-"Morgenmagazin": "Also seid euch mal nicht so sicher, dass ihr für den Winter gut aufgestellt seid und dass ihr in der Lage seid, unser Gas zu kompensieren."

"Druck auf Deutschland erhöhen"

Ein weiterer möglicher Grund für einen möglichen russischen Sabotageakt sei, dass man im Winter "die noch intakte Nord-Stream-2-Röhre dazu nutzen kann, um Druck auf Deutschland zu erhöhen, wenn beispielsweise der innenpolitische Druck auf die Regierung wachsen sollte, weil die Gaspreise hoch sind, weil wir vielleicht doch nicht genügend Gas haben für den Winter." Dann könnte Russland anbieten, durch die intakte Leitung doch noch Gas zu liefern. Dafür müsste Deutschland aber "aus dem westlichen Sanktionsregime ausscheren."

Die ebenfalls verbreitete These, dass die USA die Lecks verursacht haben könnten, "um zu verhindern, dass Europa in einem kalten Winter doch zu den Russen zurückfindet", hält Peters indes für nahezu ausgeschlossen.

"Warnruf und Belastungstest"

Bereits zuvor hatte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson die mutmaßliche Sabotage an den Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 als Warnruf bezeichnet und einen Belastungstest für die kritische Infrastruktur in Europa angekündigt. "Wir (die EU-Kommission) werden uns jetzt an alle Mitgliedstaaten wenden und wir werden einen Belastungstest durchführen in Bezug auf die kritische Infrastruktur", sagte die Schwedin am Mittwochabend im ZDF-"heute journal".

Angesichts der Lecks in den Pipelines sprach sie von einem "Anschlag", der eine "Eskalation" und "eine Bedrohung" sei. "Soweit ich es beurteilen kann, ist es ein sehr intelligenter Anschlag, der nicht verübt worden sein kann von einer normalen Gruppe von Menschen", sagte die Kommissarin. Das Risiko sei groß, dass ein Staat dahinter stehe. "Wir haben natürlich einen Verdacht. Aber es ist zu früh, das abschließend zu beurteilen."

"Mehr Fragen als Antworten"

Ähnlich vorsichtig äußerte sich auch der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, zu möglichen Verursachern der Pipeline-Lecks. "Wir haben derzeit mehr Fragen als Antworten." Die US-Regierung wolle keine Mutmaßungen über mögliche Hintermänner einer Sabotage-Aktion anstellen, bis Untersuchungen an den Erdgasleitungen abgeschlossen seien.

In der Nacht zum Montag war zunächst in einer der beiden Röhren der nicht genutzten Pipeline Nord Stream 2 ein starker Druckabfall festgestellt worden. Später meldete der Nord-Stream-1-Betreiber einen Druckabfall auch in diesen beiden Röhren. Dänische Behörden entdeckten schließlich insgesamt drei Lecks an den beiden Pipelines.

Anschlag als Ursache?

Mehrere Länder brachten bereits am Dienstag einen Anschlag auf die europäische Gasinfrastruktur als Ursache für die als beispiellos geltenden Schäden ins Spiel. Die EU und die Nato gehen von Sabotage aus. Der Kreml hatte am Mittwoch Spekulationen über eine russische Beteiligung an der Beschädigung der Pipelines als "dumm und absurd" zurückgewiesen.

Die russische Generalstaatsanwaltschaft leitete inzwischen nach eigenen Angaben ein Verfahren wegen internationalen Terrorismus ein. Moskau begründete den Schritt damit, dass mit der Beschädigung der Pipelines "Russland erheblicher wirtschaftlicher Schaden zugefügt" worden sei.

"Technische Probleme"

Gazprom hatte bis Ende August durch Nord Stream 1 Gas nach Europa gepumpt, diese Lieferungen dann aber unter Verweis auf technische Probleme, die sich wegen Sanktionen angeblich nicht lösen ließen, eingestellt. Die deutsche Bundesregierung nannte die Begründung vorgeschoben und vermutete politische Beweggründe hinter dem Lieferstopp.

Nord Stream 2 war ebenfalls mit russischem Gas befüllt. Moskau hat die Pipeline in den vergangenen Monaten immer wieder als möglichen Ersatz für Nord Stream 1 angeboten, allerdings wurde die Leitung von Deutschland nicht zertifiziert. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gilt eine Inbetriebnahme als ausgeschlossen.

US-Hubschrauber kreiste

Die als kremlnah geltende Internetzeitung lenta.ru berichtete, dass ein US-Hubschrauber von Sonntagabend bis Montagmorgen neun Stunden lang etwa 250 Kilometer von der dänischen Insel Bornholm entfernt über die Ostsee gekreist sei. Die Zeitung berief sich auf Daten von Flightradar. Der Mehrzweck-Helikopter MH-60R Strike Hawk könne auch Unterwasserziele bekämpfen, betonte die Internetzeitung. Die Pipeline-Lecks befinden sich in internationalen Gewässern in den Wirtschaftszonen Dänemarks und Schwedens in der Nähe von Bornholm. In der Region wurden Anfang der Woche Explosionen registriert.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sprach wegen der Pipeline-Vorfälle mit seinem dänischen Kollegen Morten Bødskov. Dabei bot Lloyd Dänemark mit Blick auf die beginnenden Untersuchungen der "Explosionen" die "volle Unterstützung" der US-Regierung an, wie das Ministerium am Mittwoch (Ortszeit) mitteilte. "Die Vereinigten Staaten bleiben der Sicherheit in der Ostsee und ihrem langjährigen Verbündeten Dänemark verpflichtet", hieß es. Die Minister seien sich einig gewesen, im weiteren Verlauf der Angelegenheit zusammenarbeiten, so das US-Ministerium.

Ein UN-Sprecher äußerte sich unterdessen besorgt über die möglichen Auswirkungen der Pipeline-Lecks auf die Umwelt. Man hoffe, dass die zuständigen Stellen, die Lecks schnellstmöglich versiegelten.