Odessa – das ist wie ein Schmelztiegel aus Triest und St. Petersburg, Istanbul und Lissabon – und doch etwas ganz Einzigartiges: Nicht nur der italienische Autor Paolo Rumiz liebt die Stadt am Schwarzen Meer. Die riesige Steintreppe, die von der Altstadt hinunter ans Ufer führt, wurde durch Sergej Eisensteins Film "Panzerkreuzer Potemkin" weltberühmt.

Doch täglich rückt auf dem Landweg die Front näher heran an die Perle am Schwarzen Meer. "Auch der Luftalarm wird immer länger", erzählt Karina Beigelzimer, Deutsch-Lehrerin in Odessa. "Sehr, sehr oft in der Nacht. Gestern erreichten die Sirenen mit fünf Stunden den bisherigen traurigen Rekord. Es ist grauenhaft, wenn man von diesen geweckt wird und losrennen muss. Dazwischen Schüsse und Explosionen. Ich hasse Panik. Aber oft kommt sie trotzdem." Vor der Küste Odessas haben russische Kriegsschiffe Stellung bezogen. Am Mittwoch haben mehrere von ihnen das Feuer mit Raketen und Artillerie auf zwei kleinere Städte in der Region eröffnet. Jeden Moment kann es Odessa treffen; Schüsse abgegeben haben die Schiffe bereits.



Das Zentrum der Stadt, wo noch vor drei Wochen Verliebte und Familien schlenderten, gleicht jetzt einer Festung. Kontrollpunkte und Panzersperren in den Straßen, Barrikaden aus weißen Sandsäcken an der berühmten Stiege wie auch vor dem Opernhaus; das steinerne Richelieu-Denkmal, das auf seinem Sockel die Küste überragt, haben die Bewohner bis oben hin verpackt. Den Sand von den Stränden, an denen im Sommer Kinder toben, schaufeln derzeit Freiwillige in Säcke, um damit Angreifer fernzuhalten. "Alle greifen mit an, um auf einen Großangriff vorbereitet zu sein", erzählt Karina Beigelzimer.

Das Opernhaus von Odessa wurde 1887 eröffnet. Es ist die Stadtkrone von Odessa und eines der Wahrzeichen; vor wenigen Tagen gab der Chor des Opernhauses, mitten im Krieg, ein Konzert für die Bewohner – und sang den Gefangenenchor aus Verdis "Nabucco". Viele Menschen in der Stadt, die von Zarin Katharina der Großen gegründet wurde, sprechen neben Ukrainisch auch Russisch, ein Russisch mit einer ganz eigenen Melodie.



"Es mag sein, dass es in unserer Stadt früher einige gegeben hat, die mit Putin sympathisierten. Das ist jetzt vorbei", sagt Karina Beigelzimer. "Es war nicht sein Ziel – aber wir sind nach diesen Angriffen jetzt als Ukrainer geeint und werden unsere Stadt verteidigen – alle packen mit an." Und sie fügt hinzu: "Wir haben ein gutes, friedliches Leben hier in Odessa", sagt sie. "Wir müssen nicht befreit werden! Die russischen Soldaten sollen heimgehen."

Der Hafen von Odessa, einer der größten der Schwarzmeerküste, ist für die Ukraine von immenser strategischer Bedeutung. Wenn die russische Armee diesen besetzt, würde das die Ukraine vom Schwarzen Meer abschneiden und damit von der Versorgung, die auf dem Seeweg kommt. 60 Prozent des Handels werden über den Hafen von Odessa abgewickelt.



Immer wieder gibt es Bombenalarm, die Menschen müssen in die Schutzräume. Zweimal während unseres Telefonats fallen draußen vor dem Fenster Schüsse. "Daran werde ich mich niemals gewöhnen", sagt Karina, erstarrt kurz, zuckt mit den Schultern und findet dennoch die Gelassenheit, das Gespräch fortzusetzen.

Viele Bewohner haben die Stadt bereits verlassen; die Anspannung ist groß. Karina will vorerst bleiben. "Es ist nicht leicht, die Entscheidung zu treffen, die eigene Heimat zu verlassen und Freunde, Familie, das ganze Leben zurückzulassen", sagt sie. Ihre Eltern seien noch in der Stadt.

In der Zwischenzeit machen die Menschen in Odessa einfach mit dem Alltag weiter, so gut es eben geht. Die Schulen haben Online-Unterricht – manche Lehrer unterrichten sogar aus dem Fluchtquartier in Moldau. Karina beginnt schon einmal, sich die Zeit auszumalen, wenn dieser Krieg vorüber ist: "Man muss an seinen Träumen festhalten, um hier nicht verrückt zu werden", sagt sie. "Unsere Stadt ist so eine Schönheit! Es darf einfach nicht sein, dass Putin sie zerstört."