Vor 30 Jahren begann der Zerfall Jugoslawiens, das Sie kannten wie nur wenige. Was war es für ein Land?
KARL KASER: Ich möchte diese Frage anhand persönlicher Erinnerungen beantworten, nicht als Historiker. Es sind die Erinnerungen eines damals jungen Österreichers, der Jugoslawien nur von außen kannte. Fragmente eines chaotischen, aber lebenswerten Landes, das Dinge hervorbrachte, die ich in Österreich misste – die Sprachen- und Kulturenvielfalt, aber auch seine Spielart des Kommunismus, die mit Tito verknüpft wurde. Zum Lebenswerten gehörten der obligate Espresso mit Sliwowitz oder Kognak und einer filterlosen „Drina“, die für einen Österreicher fantastisch anmutenden Filme des jungen Kusturica und die unzähligen Pop- und Rockkonzerte, die scheinbar ein einigendes kulturelles Band unter Jugendlichen kreierten. Diese Erinnerungen umfassen auch so triviale Dinge wie wegen Benzinknappheit geschlossene Tankstellen, aber auch ernsthaftere Phänomene wie den aufkeimende Nationalismus in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, der, im Unterschied zu früheren Jahrzehnten, etwa mit Miloševic nun realpolitisch wirksam wurde. Jugoslawien wurde von meiner Generation auch als ein Land zwischen Ost- und West empfunden. In Šentilj mit dem Auto die Grenze überquerend und den berühmt-gefährlichen Autoput nutzend, landeten wir in anderen Welten – in Istanbul oder Athen.
Und doch war es eine Diktatur, in der man als Dissident im Gefängnis oder im Lager landen konnte. Trübt das nicht jede Nostalgie?
Diese Frage ist mehr als berechtigt. Aber viele europäische Staaten wurden damals diktatorisch regiert, die sozialistischen in Osteuropa, aber auch westliche wie Griechenland, Portugal und Spanien. Und dann gab es Jugoslawien mit diesem begabten politischen Führer Tito. Er hatte es geschafft, mutig einen eigenen sozialistischen Weg zu gehen. 1948 hatte Tito mit Stalin gebrochen. Die meisten Dissidenten, die in Gefängnissen und auf der Strafinsel Goli Otok landeten, waren ja des Stalinismus bezichtigt worden. Die Schärfe der politischen Verfolgung hat sich dann im Lauf der Zeit gemildert. In den Achtzigerjahren war es praktisch unmöglich, wegen abweichender politischer Ansichten inhaftiert zu werden.
War Josip Broz Tito ein Diktator im Schafspelz?
Tito besaß erhebliches Charisma. Sein innenpolitisches Handeln wurde als gerecht und ausgleichend empfunden, er stand über allen nationalistischen Konflikten. Weltpolitisch hatte er Jugoslawien in eine Führungsposition gerückt. Nicht nur, dass das Land mit amerikanischer Unterstützung einen relativ hohen Lebensstandard erreichte. Er schlug auch außenpolitisch einen eigenständigen Kurs ein, indem er mit Indien und Ägypten die Bewegung der Blockfreien ins Leben rief, der sich viele asiatische und afrikanische Länder anschlossen. Tito war ein Diktator, aber auch eine der schillerndsten politischen Persönlichkeiten seiner Zeit.
Kam der blutige Zerfall von Jugoslawien für Sie plötzlich?
Beides kam für uns überraschend: der Zerfall und das Blutige. Ohne Jugoslawien konnten wir uns die Landkarte nicht vorstellen. Der „Zerfall“ entsteht erst aus der historischen Betrachtung, für uns Zeitgenossen war es lange eine jugoslawische Krise. Erst mit der internationalen Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas war unmissverständlich klar, dass Jugoslawien sich in einem Zerfallsprozess befand. Dessen blutige Seite sollte sich aber erst 1992 definitiv manifestieren.
Warum zerfiel das Land?
Die Nationalisten im kommunistischen Schafspelz haben ganze Arbeit geleistet. Trotz aller Bemühungen und Siege der jugoslawischen Fußball-, Basketball- und Wasserballmannschaften ging der Wille, für ein gemeinsames und multiethnisches Jugoslawien einzustehen, verloren. Das zweite Jugoslawien zerfiel mehr oder weniger entlang jener Grenzen, aus denen das erste Jugoslawien 1918 zusammengestellt worden war. Dies ist eine Ironie der Geschichte. Der Zerfall nahm blutige Ausmaße an, weil das nationalistische Prinzip keine Patentlösung war. Kroatien hatte seine serbische Minderheit, der mehrheitlich albanische Kosovo war serbisch beherrscht, Bosnien-Herzegowina zerfiel in seine bosniakischen, serbischen und kroatischen Komponenten. Genau an diesen Brennpunkten brachen die Zerfallskriege aus.
Wie erklären Sie die unfassbaren Gräuel, zu denen es dann kam?
Dies ist eine sehr gefährliche Frage, da sie dazu einlädt, allzu einfache Antworten zu finden, die all das Schlimme in den Kriegen einer bestimmten ethnischen Gruppe zuschieben und alle anderen exkulpieren, oder im Balkanischen ein Kulturmuster vermuten, das Lust am Töten und Brutalität in den Vordergrund rückt. Aber dies ist eine Zumutung, da die unfassbaren Gräuel, von denen Sie sprechen, in davor unbekannten Ausmaß von Nazi-Deutschland begangen worden waren. Wir sollten es nicht wagen, die einzelnen Gräuel in den jugoslawischen Kriegen über das rassistisch motivierte Morden der industriellen Tötungsmaschinerie der Nazis zu stellen. Das hieße, den Holocaust zu relativieren.
Haben Sie sich nie nach den Gründen für die Exzesse gefragt?
Natürlich habe ich das. Ich hatte damals gerade begonnen, mich mit der Kultur des Heldentums, dem Männlichkeitskult und dem Patriarchalismus am Balkan zu befassen. Dieses kulturelle Stratum schien vom Tito-Kommunismus übertüncht worden zu sein und nun in den jugoslawischen Kriegen wieder durchzubrechen. Aber ich habe damals intensiv mit einem US-Anthropologen zusammengearbeitet, der lange in Jugoslawien geforscht hat. Seine Beobachtungen waren es, die mich sehr vorsichtig werden ließen – im krassen Unterschied zu vielen Ihrer damaligen Kollegen in der Medienwelt, die wütende mittelalterliche Balkankannibalen in modernen Militäruniformen zu entdecken glaubten.
Was genau machte Sie stutzig?
Titos Equipe übernahm 1945 ein Land, das in seinen Metropolen Belgrad und Zagreb europäisch modern, aber in weiten ländlichen Gebieten sehr rückständig war, und unterwarf es einem rigorosem Modernisierungsprogramm: allgemeine Schulpflicht, Alphabetisierung, Kino, Theater, Sport, Gymnasien, Straßen, Bahnverbindungen, Infrastruktur und Zurückdrängung der Religion. Dies alles sollte Männer völlig unberührt gelassen haben, die zu den Waffen griffen, als der Krieg ausbrach? Statt traditionelle Werte in unpassender Weise hochzurufen, sollten wir unser Augenmerk darauf richten, was die Moderne an zivilisationsbrechenden Potenzialen in sich birgt. In welcher Form spiegelt sie sich in der massenhaften Vergewaltigung von Frauen im Krieg und in mörderischen Freischärlern, die am Freitagnachmittag nach der Arbeit zusammenfanden, um bis Sonntagnachmittag ihrem „Wochenendgeschäft“ nachzugehen?
Spielten die Verbrechen von Ustascha, Tschetniks und kommunistischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg, die Abrechnung danach und ihre Tabuisierung in Tito-Jugoslawien gar keine Rolle?
Das sind wieder diese allzu leichtfertig zusammengebastelten westlichen Erklärungsmuster! Ich habe die Haager Vernehmungsprotokolle nicht studiert, aber ich bin überzeugt davon, dass der serbische General Mladic kein einziges Mal mit den erwähnten Exzessen im Zweiten Weltkrieg argumentiert hat, um sich zu verteidigen. Die Erklärungen finden wir vor Ort, nicht in der fernen Geschichte!
Wie lebendig ist die Erinnerung an Jugoslawien am Balkan heute?
Sie ist in den einzelnen Nachfolgestaaten unterschiedlich stark ausgeprägt. In Slowenien ist es wohl so, dass dem zentraleuropäischen Land die Balkankomponente abhandengekommen ist. Anders gelagert ist der Fall in Bosnien-Herzegowina. Hier, in Jajce, wurde das neue Jugoslawien Ende November 1943 aus der Taufe gehoben. Hier ist die Erinnerungsbewegung am stärksten verankert und kümmert sich darum, dass Gedenkstätten, die an entscheidende Schlachten im Zweiten Weltkrieg erinnern, weiterhin gepflegt werden. Insgesamt sind die Grenzen zwischen Vergessen und Erinnerung porös, allerdings völlig vergessen wird dieses Land wohl nie werden.