In einem Interview sagten Sie folgende Worte: "Sollte sich der Westen von uns abwenden, würden wir sofort wieder an Russland verloren gehen. Dort wartet man nur darauf, den Status quo der ehemaligen Sowjetunion wiederherzustellen." Dieses Interview hat allerdings bereits vor 15 Jahren stattgefunden – warum hat die Welt nicht auf Sie gehört?
JULIA TIMOSCHENKO: Ich würde das immer wieder so sagen. Jetzt sehen wir die Konsequenzen. Als Ministerpräsidentin habe ich 2008 den Antrag für einen Nato-Beitritt unterzeichnet. Das war der Moment, als die Mehrheit der Ukrainer die alten Brücken abbrechen und den Weg nach Westen einschlagen wollte. Mehrere Länder haben das blockiert, sie haben sich den Russen gebeugt. Wenn das damals nicht passiert wäre, würden wir heute nicht über den Krieg reden und es wäre nicht der hohe Preis der Sanktionen zu bezahlen. Um Russlands Erpressungen nachzugeben, wurde die Ukraine geopfert. Jetzt haben wir eine historische Chance für Europa, unabhängig Entscheidungen zu treffen.

Sie haben damals auch Angela Merkel getroffen; ihr wird vorgeworfen, den Nato-Beitritt blockiert zu haben. Sehen Sie da eine Schuld?
Ich will sie nicht beschuldigen. Jetzt gibt es die Möglichkeit, Fehler zu korrigieren. Ich sehe, dass auch Deutschland sich verändert hat, es unterstützt den Kandidatenstatus zur EU. Vor einem Jahr wäre das noch undenkbar gewesen. Deutschland beliefert die Ukraine mit Waffen, auch das wäre vor Kurzem unvorstellbar. Deutschland hat beim Treffen der Verteidigungsminister in Ramstein teilgenommen und trägt alle Maßnahmen mit, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Ich hoffe aber, dass wir am Ende des Tages nicht einen Gesinnungswandel erleben, um Russland zu beschwichtigen.

Wie beurteilen Sie die Sanktionen? Diese Woche hat die EU-Kommission große Pakete zum Ausstieg aus Öl- und Gaslieferungen vorgelegt – reicht das alles aus?
Die Sanktionen sind beispiellos und ich verstehe, dass die Entscheidungen in manchen Ländern sehr schwierig sind, weil die Wirtschaft stark davon abhängt. Ich verstehe auch, dass manches Zeit braucht.

Länder wie Ungarn, aber auch Österreich sagen, sie brauchen sehr viel Zeit ...
Die Sache ist einfach. Jeden einzelnen Tag fließen bis zu einer Milliarde Euro für Energielieferungen nach Russland. Das Geld finanziert den Krieg. Wenn wir den rasch beenden wollen, dann brauchen wir größtmögliche Waffenlieferungen und größtmögliche Sanktionen. Es geht nicht nur darum, dass die Ukraine den Krieg gewinnt – Russland ruiniert den europäischen Kontinent. Das ist ganz rational: Der Krieg muss beendet werden.

EU-Korrespondent Andreas Lieb mit Julia Timoschenko in Brüssel
EU-Korrespondent Andreas Lieb mit Julia Timoschenko in Brüssel © KK

Die EU öffnet die Tür zum Kandidatenstatus, aber es braucht bis zum Beitritt Jahre. Macht man der Ukraine falsche Hoffnungen?
Warum ist die Ukraine nicht schon längst in der EU und in der Nato? Weil Russland immer wieder Länder über ihre Abhängigkeit unter Druck setzen konnte. Der Krieg hat das verändert, Russland hat den Einfluss verloren. Es gibt keinen Grund, warum die Ukraine nicht in absehbarer Zeit zur EU und zur Nato kommen sollte. Entweder Putin kann weiter in Europa mitregieren oder wir befreien uns davon.

Aber Sie akzeptieren, dass es eine lange Zeit bis zum Beitritt braucht?
Ich denke, das ist eine politische Entscheidung. Wenn Finnland und Schweden zur Nato kommen, ist ein Teil des üblichen Aufnahmeverfahrens außer Kraft. Die EU sollte die bürokratischen Hürden überdenken und den Aufnahmeprozess beschleunigen. Je eher, desto besser. Wenn uns die Nato aufnimmt, verhindern wir damit künftige Kriege.

Verstehen Sie, dass diese Frage mit dem Westbalkan verknüpft wird, dessen Länder schon lange in Warteposition sind?
Alle Länder, die sich um eine Aufnahme bewerben, durchlaufen den gleichen Prozess. Man sollte sich von den dunklen politischen Einflüssen der Vergangenheit befreien, das betrifft auch das einstige Jugoslawien.

Sie haben Wladimir Putin selbst immer wieder getroffen – viele im Westen zweifeln an seinem Gesundheitszustand ...
Vergessen Sie all die Erzählungen über seine geistige Gesundheit! Da ist nichts dran, auch nichts an einer Krebserkrankung. Er denkt rational, hat eine Mission, die er sich selbst zurechtgelegt hat. Es geht nicht um Donbas oder Krim, es geht darum, die Ukraine durch den Krieg nach Russland zurückzubringen – aber ohne Ukrainer. Ich denke, sein Ziel ist Genozid, die Kolonialisierung eines Landes. Er will im Grunde unsere Wurzeln vernichten, er wird das bis zum Ende durchziehen. Ich glaube nicht an Friedensabkommen, die es bei Donbas und Krim belassen.

Aber was braucht man, um den Krieg zu beenden? Waffen, Verhandlungen, Kompromisse?
Angesichts von Putins Zielen sind Verhandlungen und Kompromisse unmöglich. Wenn wir ihm zubilligen, auch nur teilweise ganze ethnische Gruppen auszulöschen, wird er nicht stoppen. Er lässt uns keine Chance: Wir können nur auf dem Schlachtfeld gewinnen, dann ist Putins Regime am Ende. Erst dann hat Russland die Chance, sich neu zu formieren und normale Beziehungen zu anderen Ländern herzustellen.

Wenn am Ende die Ukraine gewinnt und Russland als Verlierer dasteht, führt das zu einer neuen Weltordnung?
Definitiv. Wir werden jetzt schon Zeugen, wie sich die Welt verändert. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Lassen wir alles wie es ist – dann werden wir weiterhin nicht imstande sein, Frieden, Grenzen und Menschen zu verteidigen. Oder die Menschheit schafft es, sich von solchen aggressiven Regimes zu lösen. Es geht um Prävention. Vielleicht gibt es neue Allianzen, die der freien Welt zu neuer Stärke verhelfen. Daran glauben wir. Die Ukraine will daran mitwirken.

Kann Europa diese Herausforderung bewältigen?
Die EU muss das schaffen, oder sie verliert ihre Bedeutung.