Ein Jahr vor den französischen Präsidentschaftswahlen, bei denen sich voraussichtlich wieder Marine Le Pen und Emmanuel Macron in der entscheidenden zweiten Wahlrunde gegenüberstehen werden, muss ein kurzer Rückblick erlaubt sein, der eine Ahnung davon gibt, wie enttäuscht viele Wähler vom einstigen Hoffnungsträger Macron sind und warum Le Pen noch nie so gute Chancen hatte, Präsidentin zu werden.

Macron versprach 2017, die zersplitterte französische Gesellschaft zu versöhnen. Sein Projekt war eine neue Mitte, ein politisches Zentrum jenseits der uralten Fronten, wo sich seit der Revolution rechts gegen links, konservativ gegen progressiv, katholisch gegen laizistisch unversöhnlich gegenüberstanden, wenn nicht bitter bekriegten. Es war ein Projekt geprägt von Optimismus und Wohlwollen, nach Außen von Europa-Enthusiasmus und neuer französischer Stärke.

Ein zweites Versprechen war, politische Korruption zu beenden, das politische Ethos zu erneuern, die repräsentative Demokratie zu modernisieren, das Wahlrecht zu reformieren und vor allem das politische Personal auszutauschen, also Bürgerinnen und Bürger der Zivilgesellschaft in die Ämter zu holen. Das erste Gesetz in Macrons Amtszeit, dass das Parlament damals verabschiedete, trug den Titel „Gesetz für das Vertrauen in das politische Leben“.

Fünf Jahre später ist von dieser Aufbruchsstimmung nichts mehr übrig. Macron hat den Vorschuss an Vertrauen aufgebraucht, und Frankreichs repräsentative Demokratie steckt tiefer in der Krise als je. Die Pandemie ist daran nur bedingt schuld. Denn in Österreich mögen durch die Gesundheitskrise Gräben aufgerissen sein, die man vorher nicht unbedingt wahrgenommen hatte. Im Nachbarland ist eine tief gespaltene Gesellschaft durch Corona nur noch weiter auseinandergedriftet. Die viel beschworenen republikanischen Ideale halten das Land nicht mehr so selbstverständlich zusammen, wie das die längste Zeit üblich war.

Ohne Kitt

Katholizismus und Kommunismus, die im 20. Jahrhundert zum gesellschaftlichen Kitt gehörten, haben alle Bindekraft verloren, die Gewerkschaften wirken angesichts dramatisch schrumpfender Mitgliederzahlen wie aus der Zeit gefallen.

Der Kitt bröckelt aus vielen Ritzen. Nach den ersten Attentatsserien 2015 zeigte sich die Gesellschaft noch stark und geeint. Sechs Jahre später ist sie erschöpft und viele sind mit ihrer Geduld am Ende. Gebetsmühlenartig hat sich Frankreich gesagt, dass genau dies das Ziel der Islamisten sei: Die Bürger gegeneinander aufzubringen, den Zusammenhalt zu sprengen, Hass auf Muslime zu füttern.

Jede heutige Attacke des „Low-cost“-Terrorismus, verübt von Tätern, die durch das Netz der Geheimdienste gefallen sind, erweist sich als Zerreißtest. Dass in Macrons Amtszeit mehr als 30 Attentate verhindert worden sind, wird weggewischt durch die Anschläge und sonstigen Gewalttaten, die dennoch verübt werden können. Es ist für den Präsidenten eine „Loose-loose-Situation“. Macron mag ausreichend Geschichtsbewusstsein haben, um die Ursachen des Hasses gegen Frankreich zu benennen und historische Aufarbeitung zu leisten. Aber dafür wird man bei Wahlen nicht belohnt.

Es rächt sich jetzt, was vor fünf Jahren aussah wie ein Befreiungsschlag: Macrons Sieg aus dem Nichts, erkauft mit einer vernichtenden Niederlage der Sozialisten, hatte als Kollateralschaden die Funktionsfähigkeit des politischen Betriebs in Frankreich. Um ein diffuses Zentrum, in dem die Partei des Präsidenten, La République en Marche, als richtungsloser Koloss das Land mehr verwaltet als regiert, fliegen die Repräsentanten des alten Regimes und was von ihnen übrig geblieben ist.

Die Linke, uneins und zersplittert wie eh und je, scheitert an den Eitelkeiten ihrer Anführer, die Konservativen, angeführt von zweitklassigem Führungspersonal, haben ihren Kompass verloren und wissen nicht mehr, was sie von Marine Le Pens Rechtsradikalen unterscheidet.

Macron, zweifellos ein strategisches Genie, macht sich diese Konstellationen zunutze, verfängt sich aber im kleinen Spiel, das in Frankreich abschätzig „Politiker-Politik“ genannt wird, „politique politicienne“. Dabei tritt er teils derart autokratisch auf, dass selbst seine historische Stütze, die Liberalen von François Bayrous Partei MoDem, seines Führungsstils überdrüssig geworden sind.

Für die Demokratie in Frankreich ist das alles gefährlich. Denn in diesem Trümmerfeld treten Macron und Le Pen wieder an als Repräsentanten radikal unterschiedlicher Weltauffassungen: der eine für Offenheit und Europa, die andere für Schließung, Abschottung und nationalen Egoismus. Le Pens Themen haben Rückenwind in der Gesellschaft. Trotz Gesundheitskrise werden die öffentlichen Debatten seit Wochen von Migration, Terrorismus, öffentlicher Sicherheit und der Haltung zum Islam bestimmt.

Im aufgeheizten Vorwahlkampf, in dem alle Akteure weiter nach rechts rutschen, haben sich inzwischen Teile des Militärs eingemischt. In einem offenen Brandbrief sagen 20 pensionierte Generäle einen Bürgerkrieg voraus. Die Regierung wollte die ungewöhnliche Initiative aussitzen, als ein zweiter Brief veröffentlicht wurde, dieses Mal von aktiven Soldaten, allesamt anonym. Es gehe um das „Überleben unserer Nation“, schreiben diese Militärs, ein ungeheuerlicher Vorgang, der nicht ausgestanden ist.

Einen nicht unwesentlichen Anteil an dieser Untergangsstimmung haben die Abendnachrichten des öffentlichen Fernsehens, die nur noch französische Nabelschau betreiben. Zu sehen ist allabendlich die französische Malaise, angereichert durch Schreckensmeldungen aus dem Vermischten, die in den Augen vieler Franzosen nicht mehr als zufällige Unglücke und Einzelfälle, sondern als struktureller Tabuverlust und gesellschaftlicher Niedergang wahrgenommen werden.

Terrorattacken, Polizistenmorde, Familiendramen, brutale Eskalation überall, Verweigerung des Gehorsams bei Verkehrskontrollen, Bandenkriege, bei denen immer häufiger Minderjährige sterben: Egal, ob ein Busfahrer in Bayonne zusammengeschlagen und getötet wird, eine Krankenschwester in Lyon überfahren und einen Kilometer lang hinter dem Auto hinterhergeschleift wird oder ob der Brigadier Eric Masson, wie zuletzt geschehen, bei einer einfachen Drogenkontrolle erschossen wird, jede einzelne Tat wird als Puzzleteil eines Bildes interpretiert, das den Staat hilflos, wenn nicht ohnmächtig angesichts der Gewalt zeigt.

Macron mag die Sicherheitsgesetze verschärft, den Etat der Schutzkräfte deutlich erhöht und durch das neue Separatismus-Gesetz gezeigt haben, dass er jeden Ansatz islamistischer Parallelgesellschaften bekämpft. Seinen Ruf hat das nicht verändert. Die Mehrheit der Franzosen traut ihm nicht zu, durchzugreifen. Le Pen hingegen positioniert sich seit Jahren als kompromisslose Vorkämpferin gegen alles, was stört.