Sie entrüsten sich über die Grenzschließungen zu Tirol. Was ist verwerflich daran, dass Deutschland und Italien sich gegen mutierte Viren schützen?
ALEXANDER SCHALLENBERG: Es ist völlig legitim, dass Staaten Maßnahmen ergreifen, um die Bevölkerung zu schützen. Das tun wir auch. Hier hat man aber das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Deutschland ist der einzige Staat in Europa, der bei Gütertransporten von Frächtern Tests verlangt. Wir hatten zunächst sogar das Problem, dass der Transit von Tirol nach Salzburg über das Deutsche Eck komplett unterbunden war. Bis jetzt wissen die Tiroler Pendler nicht, ob sie zu ihrem Arbeitsplatz in Deutschland können. Da ist es nur gerechtfertigt, dass Österreich klar Position bezieht.

Österreich schließt ganz selbstverständlich die Grenzen zu Tschechien. Aber wenn Deutschland dasselbe in Tirol macht, heulen alle auf. Ist das nicht scheinheilig?
Wir haben die kleineren Grenzübergänge geschlossen, die großen bleiben natürlich offen. Das liegt in der Natur der Sache, da vermehrt kontrolliert wird. Allerdings haben wir das sowohl im Interesse unserer Nachbarn als auch in unserem eigenen stets so gehandhabt, dass der Güter- und Pendlerverkehr nicht zum Erliegen kommt. Nur, was da Ende letzter Woche an Ankündigungen aus Deutschland gekommen ist, geht doch weit über das Ziel hinaus. Da bestand tatsächlich die Gefahr, dass Tirol zum Lkw-Parkplatz Europas wird.

Vor einer Woche wollte die Bundesregierung Tirol immerhin selbst abriegeln. Schon vergessen?
Wir haben vereinbart, dass man einen negativen Test braucht, wenn man Tirol verlässt. Aber es stand nie im Raum, dass wir eine Mauer um Tirol herumbauen. Das wäre wirtschaftspolitisch und menschlich völlig falsch. Das haben wir auch in Europa in den letzten zwölf Monaten nicht getan. In Paris macht sich aufgrund der deutschen Maßnahmen Nervosität bemerkbar. Man will solche Überraschungen nicht an der deutsch-französischen Grenze haben. Luxemburg hat sich auch besorgt gezeigt. Und die EU-Kommission hat Deutschland aufgefordert, von pauschalen Reiseverboten Abstand zu nehmen, was zu einer unwirschen Reaktion Berlins geführt hat.

Ist Tirol jetzt ein Gefahrenherd, für Europa, oder ist es das nicht?
Tirol hat momentan die höchste Zahl an nachgewiesenen Fällen der südafrikanischen Mutation. Gleichzeitig ist es das Bundesland mit den niedrigsten Inzidenzen. Aber unsere gesamte Exitstrategie aus dieser Pandemie beruht auf den Impfungen. Wenn es also eine Mutation gibt, die das zu unterlaufen droht, ist Feuer am Dach. Daher hat die Bundesregierung gemeinsam mit der Tiroler Landesregierung einen sehr schmerzhaften Schritt gesetzt. Das muss man anerkennen. Das wird auch von den Deutschen anerkannt. Aber das darf Dritten nicht als Entschuldigung dafür dienen, jetzt über das Ziel hinauszuschießen.

Was irritiert Sie am meisten?
Dass die deutschen Maßnahmen praxis- und weltfremd sind. Wir reden immerhin von einer der ganz wesentlichen, wenn nicht der wesentlichsten Wirtschaftsarterie des gesamten europäischen Binnenmarktes. Hier so über das Ziel hinauszuschießen ist fahrlässig.

Wie erklären Sie sich das?
Das müssen Sie die deutsche Bundesregierung fragen. Wir standen im vorigen März mit den Exportbeschränkungen schon einmal vor dieser Situation, wo von der EU-Kommission bis zu den Nachbarstaaten alle aufgetreten sind und Deutschland letztlich ein Einsehen hatte.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagt, er wolle ein zweites Ischgl um jeden Preis verhindern. Kann man ihm das verargen?
Es ist bemerkenswert, dass man in Bayern immer wieder diesen Namen verwendet, so als würde man hier ein Rebranding versuchen. Aber das ist nicht zutreffend. Deutschland ist wie alle EU-Staaten Teil des europäischen Binnenmarktes, und es hat sich wiederholt zu den Empfehlungen auf europäischer Ebene verpflichtet, die darauf hinauslaufen, dass man die Wirtschaft nicht mutwillig abwürgt.

Hat Ischgl das Vertrauen in Österreich nachhaltig ruiniert?
Das sehe ich überhaupt nicht. Wo Fehler begangen wurden, muss man daraus lernen. Aber alle Staaten dieser Erde waren letztes Jahr mit herausfordernden Situationen konfrontiert. Österreich hat bei der ersten Welle sehr gut reagiert. Wir waren eines der Länder, das am ungeschorensten blieb. In der EU mit dem Finger aufeinander zu zeigen, das bringt nichts. Das tun wir nicht, das ist nicht unsere Art. Es wäre fein, wenn auch unsere deutschen Nachbarn das unterließen.