Schier ausgehungert schienen die Menschenmassen, die am Sonntag die Zentren der italienischen Großstädte, in Mailand, Rom, Turin und Neapel stürmten. Ausgehungert nach Weihnachtsstimmung, einem Einkaufsbummel, nach einem Aperitif.

Denn Roms Regierung hatte nach einem mehrwöchigen Lockdown beschlossen, dass mehrere der „orangefarbenen Regionen“ am dritten Adventssonntag in Gelb verwandelten, was weitgehende Freiheiten der Öffnungszeiten für Geschäfte, Kaffeehäuser und Restaurants bedeutet. Die Regierung hatte die Maßnahme primär auf Druck der regionalen Präsidenten verabschiedet. Diese befürchteten, dass das Weihnachtsgeschäft 2020 zum Flop ausartet. Zu den neuen, gelben Regionen zählten die norditalienische Lombardei (Mailand), Piemont (Turin) oder auch Kampanien (Neapel).

Mit den Massen, die sich sonntags in Mailand und Rom sammelten, rechnete jedoch niemand. Bereits am Vormittag bildeten sich Schlangen vor Mailands Kaffeehäusern und Bars, Restaurants meldeten „overbooked“; seit November hatten sie geschlossen. In der Via Dante, der Mailänder Fußgängerzone, die das Sforzesco Schloss mit dem Dom verbindet, war es schwierig, sich weiterzubewegen. Von Sicherheitsabstand keine Rede, immerhin die Masken wurden getragen.

Die Mailänder wollten endlich ihren Aperitif, inner- oder außerhalb ihrer Bar trinken. Aber nicht nur die „Milanesi“ selbst, vor allem die Bevölkerung aus dem Hinterland benutzte den sonnigen Sonntag, um endlich wieder „unter Menschen“ zu sein, Auslagen zu bewundern und Weihnachtseinkäufe zu machen. Die Geschäftsleute freuten sich über den Massenauflauf „20 Prozent mehr Umsatz als am dritten Adventssonntag im Vorjahr“ heißt es bei Benetton, auf der Piazza del Duomo.

Was der Geschäftsboom für die Pandemie bedeutet, ist absehbar. Professor Massimo Galli, Primararzt des Mailänder Sacco Krankenhauses, ist überzeugt, dass die dritte Coronavirus-Welle nicht auf sich warten lässt. Bereits in der letzten Woche gab es täglich zwischen 600 bis 800 Corona-Tote. Italien ist das Land mit der höchsten Sterbeziffer in Europa. Zwar hat sich die Infektionskurve leicht abgeflacht und die einst prekäre Situation in den Intensivstationen der Krankenhäuser verbessert. Doch die Pandemie ist noch nicht unter Kontrolle. Nach der Erfahrung vom Wochenende, diskutiert Roms Regierung, zur Weihnachtszeit einen landesweiten Lockdown einzuführen.

Vorschlag von Gesundheitsminister Roberto Speranza ist, vom 24. Dezember bis. 6. Jänner landesweit Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte zu schließen. Vorgesehen ist bereits, dass an den Festtagen die Reise von einer Region zur anderen, sogar von einer Gemeinde zur anderen verboten werden. Zigtausende Soldaten sollen kontrollieren, dass es friedlich bleibt.

Wer trägt die Verantwortung an dem sonntägigen Dilemma? Der Mailänder Bürgermeister Giuseppe Sala ist davon überzeugt, dass nicht nur der Bevölkerung die Schuld zuzuschieben sei. Man könne nicht von einem weitgehenden Lockdown innerhalb einer Nacht zu einer völligen Öffnung von Gastbetrieben und Geschäften gehen. Ein stufenweiser Übergang wäre vernünftiger gewesen.

Am Montag herrschte in Mailand, aber auch in Rom und Turin eine unerwartete, beinahe beklemmende Ruhe „nach dem Sturm“. Die Geschäfte waren weitgehend leer, nur einzelne Personen tranken in den Frühstück-Bars ihren Cappuccino und auch der Andrang in den Bars ließ nach.

Kurzum: Die Mailänder nahmen nach ihrem zwölfstündigen Konsumrausch doch wieder Vernunft an. Nicht nur über eine neue Pandemiewelle macht man sich hier Sorgen. Die drohende Regierungskrise könnte jegliche Erholungsaussichten zunichte machen, meinte Nationalökonom Tito Boeri. Roms Regierung steht vor einer Zerreißprobe.

Die Koalition aus der sozialdemokratischen PD, der 5-Sterne-Bewegung, der Kleinpartei LeU und Italia Viva ist so zerstritten, dass Italia-Viva-Chef, Ex-Premierminister Matteo Renzi, sogar ein Ende der Regierung Conte nicht ausschließt. Im Mittelpunkt der Diskussion steht die Verwendung der Mittel aus dem europäischen Aufbauprogramm.

Italien soll 209 Milliarden Euro in Form von zinsgünstigen Krediten und Zuschüssen erhalten. Premierminister Giuseppe Conte hat einen Entwurf vorgelegt, der Ausgaben von 196 Milliarden Euro vorsieht.
Conte will mit Finanzminister Roberto Gualtieri und Industrieminister Stefano Patuanelli recht autonom über die Mittelvergabe entscheiden und sechs „Superkommissare“ einsetzen. Matteo Renzi wirft Conte Machtkonzentration vor und fordert eine stärkere Einbeziehung von Parlament und Regionen. Er will dem Plan in dieser Form nicht zustimmen und droht mit Krise.

491 Todesopfer und knapp 12.000 Neuinfizierte

Die Zahl der Todesopfer in Zusammenhang mit dem Coronavirus in Italien ist leicht gestiegen. Am Montag wurden 491 Personen gemeldet, die an oder mit Covid-19 gestorben sind. Das sind sieben mehr als am Vortag. Damit überschritt die Zahl der Toten seit Beginn der Pandemie in Italien die 65.000-Schwelle und stieg auf 65.011. Damit ist Italien vor Großbritannien das europäische Land mit den meisten Coronavirus-Todesopfern.

Die Zahl der registrierten Neuinfektionen sank in Italien innerhalb von 24 Stunden von 17.938 auf 12.030. Binnen 24 Stunden wurden 103.584 Tests durchgeführt, 11,6 Prozent davon fielen positiv aus. Die Zahl der in Spitälern behandelten Covid-19-Patienten stieg von 27.735 auf 27.765, berichtete das Gesundheitsministerium in Rom. Die Zahl der Patienten auf den Intensivstationen fiel von 3154 auf 3095. Derzeit befinden sich 644.249 Personen in Heimisolation.

Die italienische Regierung hat strenge Reisebeschränkungen über die Weihnachtsfeiertage beschlossen. Reisen zwischen den italienischen Regionen sollen vom 21. Dezember bis zum 7. Jänner nur aus arbeits- und gesundheitlichen Gründen und in anderen Notlagen möglich sein. Am 25. und 26. Dezember sowie am 31. Dezember und am 1. Jänner darf man den eigenen Wohnort nicht verlassen. Die Skipisten bleiben über die Weihnachtsfeiertage geschlossen. Erwartet wird, dass die Maßnahmen in den nächsten Tagen weiter verschärft werden.