Der britische Premierminister Boris Johnson hat die Spannungen bei den seit Monaten festgefahrenen Brexit-Verhandlungen durch ein Ultimatum verschärft. Johnson verlangte einen Tag vor der neuen Gesprächsrunde in London eine Einigung bis zum 15. Oktober. Andernfalls könne es kein Handelsabkommen zwischen beiden Seiten geben.

Zudem drohte die Regierung Medienberichten vom Montag zufolge in einer der überraschendsten Wendungen in der vierjährigen Brexit-Saga damit, bei Ausbleiben einer Einigung über die künftigen Beziehungen Teile des Austrittsabkommens vom Jänner außer Kraft zu setzen. Dies könnte nicht nur den Vertrag gefährden sondern auch den Nordirland-Konflikt wieder anfachen. Der Zeitdruck war bereits vorher groß. Denn auch EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte kürzlich darauf verwiesen, dass bis spätestens Ende Oktober eine Vereinbarung stehen müsse, damit der Ratifizierungsprozess rechtzeitig bis Jahresende abgeschlossen werden könne.

Status wie Australien

Wenn keine Einigung zustande kommen sollte, werde Großbritannien Handelsbeziehungen mit der EU wie zu Australien aufnehmen, erklärte Johnson. Auch das wäre "ein gutes Ergebnis". Für die Europäische Union käme dies dem befürchteten ungeregelten Brexit gleich. Barnier, der am Dienstag in London erwartet wird, äußerte sich besorgt. "Die Verhandlungen sind schwierig, weil die Briten das Beste aus beiden Welten wollen", sagte der Franzose dem Radiosender France Inter. Er halte es aber immer noch für möglich, ein Abkommen über die besonders strittige Frage der Fischerei-Rechte zu finden. Daneben ist vor allem Großbritanniens Beharren auf eine vollständige Autonomie bei Staatshilfen ein Knackpunkt.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mahnte Großbritannien, sich an seine Zusagen aus dem Brexit-Abkommen zu halten, wenn es eine Vereinbarung über künftige Beziehungen mit der EU haben möchte. Sie vertraue darauf, dass London dies tun werde, twitterte sie. Ein Sprecher der Regierung sagte in Berlin, eine Einigung sei noch möglich. Großbritannien müsse sich aber bewegen.

Warnung vor Vertrauensverlust

EU-Diplomaten warnten die Regierung in London, dass eine Abkehr von vertraglichen Zusagen Großbritannien weltweit einen Vertrauensverlust einbrocken und die Chancen für ein Handelsabkommen schmälern würde. "Wer würde Handelsabkommen mit einem Land vereinbaren wollen, das internationale Verträge nicht umsetzt?", fragte ein Diplomat. "Es wäre eine verzweifelte und letztlich selbstzerstörerische Strategie."

SPÖ-EU-Delegationsleiter im EU-Parlament Andreas Schieder forderte unterdessen ein Entgegenkommen Großbritanniens: "Statt endlich ehrlichen Verhandlungswillen zu beweisen, spielt Premierminister Johnson weiter sein verantwortungsloses Spiel. Die Verhandlungsführung der Tories ist nur mehr grotesk. Es braucht für die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und Großbritannien keine Drohgebärden, sondern einen Deal auf Basis des Austrittsabkommens."

Regierung äußert sich nicht

Die britische Regierung äußerte sich nicht direkt zu den Berichten unter anderem in der "Financial Times" über eine Teilabkehr von dem Austrittsabkommen. Eine Sprecherin sagte lediglich zu dem dazugehörigen Nordirland-Protokoll, man arbeite daran, die noch offenen Fragen mit der EU zu lösen, erwäge aber Rückzugsmöglichkeiten. Die Regierung werde im besten Interesse Nordirlands und des britischen Binnenmarktes handeln. Oberste Priorität sei es aber, die Errungenschaften des Friedensprozesses in Nordirland zu wahren. Die britische Regierung hat im Austrittsabkommen zugesagt, eine harte Grenze zwischen dem EU-Land Irland und Nordirland zu vermeiden. Ein Abrücken von der Vereinbarung könnte zu einem Konflikt mit Irland und mit Nationalisten in Nordirland führen.

Großbritannien ist im Jänner aus der EU ausgetreten. Bis Jahresende gilt aber noch eine Übergangsphase, in der die künftigen Beziehungen etwa im Bereich Handel geklärt werden sollen. Gelingt keine Einigung, droht ein ungeregelter Austritt. Experten warnen in einem solchen Fall vor schweren wirtschaftlichen Folgen für beide Seiten. Die Sorgen machten sich auch am Finanzmarkt bemerkbar: Das Pfund Sterling fiel um rund ein halbes Prozent zu Dollar und Euro.