„Back in the U.S.S.R“, sangen die Beatles 1968 in ihre Mikros. „Zurück in der Sowjetunion“ wähnen sich in Russland heute immer mehr Menschen – mit durchaus gemischten Gefühlen. Kreml-Chef Wladimir Putin bezeichnete den Zusammenbruch der Sowjetunion einst als „größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts – und bezog sich damit vor allem auf den Verlust der Großmachtrolle.

Ein Teil der Popularität Putins in den vergangenen Jahren erklärt sich daraus, dass er es geschickt verstand, aus Versatzstücken sowohl der Sowjetära wie auch des zaristischen Russlands an die alten Zeiten anzuknüpfen und das angeknackste Selbstbewusstsein der Nation wieder zu heben: Mit Militärparaden im Sowjetstil etwa wird an den Sieg der Sowjetunion über Hitler-Deutschland erinnert und die einstige Stärke von damals auf das heutige Russland und die Herrschaft Putins übertragen. Er führte die alte sowjetische Hymne mit neuem Text wieder ein, und Stalin wird in den Schulbüchern wieder gelobt.

Die problematische Seite der neuen-alten Staatsdoktrin: Das Bild, das darin gezeichnet wird, blendet schwierige Aspekte der eigenen Geschichte aus. Anstatt die Verbrechen unter Stalin als solche zu benennen, aufzuarbeiten und Schlüsse für die heutige Entwicklung zu ziehen, wird der Diktator holzschnittartig in seiner Rolle als Bezwinger Hitlers und Held weißgewaschen.

Was daraus folgt: Wer es sich zum Anliegen macht, genau diese Verbrechen zum Thema zu machen, wird zum Feind der Staatsmacht. Das zeigt der Fall des Historikers Jurij Dmitrijew, der kürzlich zu dreieinhalb Jahren Straflager verurteilt wurde. Ihm wird vorgeworfen, seine Adoptivtochter missbraucht zu haben. Die angesehene Menschenrechtsorganisation „Memorial“ betrachtet Dmitrijew als politisch Verfolgten, der mit erfundenen Vorwürfen zum Schweigen gebracht werden sollte.

Gedenken an die Opfer

1997 hatte Dmitrijew bei Forschungen zu Hinrichtungen unter Stalin in Sandarmoch, einem Waldgebiet im Nordwesten Russlands, ein Massengrab aus der Zeit des Großen Terrors von 1937/38 gefunden. Der NKWD, der Vorgänger des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, hat demnach hier 6000 Menschen erschossen. Später begannen kremlnahe Historiker Ausgrabungen – und dann hieß es, die Opfer seien von finnischen Soldaten mit US-Revolvern erschossen worden; aus Sicht lokaler Menschenrechtler ein Versuch, die Geschichte umzuschreiben.

„Wir müssen an jene Menschen erinnern, die durch den Willen der Anführer unseres Staates starben“, sagte Dmitrijew vor Gericht – und gerät damit jenen Kräften in den Weg, die Stalin verehren. Er halte das Gedenken an die Opfer für seine patriotische Pflicht, sagte er. „Dmitrijews Anklage ist im Kontext mit den Anstrengungen der russischen Behörden zu sehen, die Verbrechen Stalins kleinzureden“, teilte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch mit.

„Wir müssen an jene Menschen erinnern, die durch den Willen der Anführer unseres Staates starben“, sagte Dmitrijew vor Gericht – und gerät damit jenen Kräften in den Weg, die Stalin verehren. Er halte das Gedenken an die Opfer für seine patriotische Pflicht, sagte er. „Dmitrijews Anklage ist im Kontext mit den Anstrengungen der russischen Behörden zu sehen, die Verbrechen Stalins kleinzureden“, teilte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch mit.

Massenproteste

Prozesse mit politischem Kontext, denen Menschenrechtsorganisationen eine zweifelhafte  Beweislage attestieren, häufen sich. Der frühere Journalist Iwan Safronow, der über Skandale in der Rüstungsindustrie berichtet hat, wird vom Inlandsgeheimdienst FSB beschuldigt, ein Agent der Nato zu sein. Zugleich sorgen im Fernen Osten derzeit die in der Region größten Massenproteste der Putin-Ära für Aufsehen: Dort war nämlich Gouverneur Sergej Furgal verhaftet worden, der als vom Machtapparat in Moskau unabhängiger Politiker gilt und 2018 die Wahl gegen den Kandidaten der Kremlpartei Geeintes Russland gewonnen hatte. Die Ermittler werfen Furgal vor, er habe als Geschäftsmann vor 15 Jahren zwei Morde in Auftrag gegeben. Die Demonstranten in Chabarowsk dagegen halten das Vorgehen der Justiz für politisch motiviert.

Schauprozess gegen liberale Kunstszene

In der nordwestrussischen Stadt Pskow wurde die Journalistin Swetlana Prokopjewa der Rechtfertigung von Terrorismus für schuldig befunden, nachdem sie sich kritisch über das repressive System der Geheimdienste geäußert und Verständnis für den Selbstmordanschlag eines jungen Mannes gezeigt hatte. Im Juni wurde Starregisseur Kirill Serebrennikow, der sich unter anderem an Protestaktionen für faire Wahlen beteiligt hatte, unter dem Vorwurf der Veruntreuung staatlicher Fördergelder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Das Verfahren gegen den Künstler gilt als Schauprozess gegen die liberale Kunstszene in Russland.

Angst schüren

Die politisch inszenierten oder bestellten Prozesse zeigten die ganzen Auswüchse eines „fortgeschrittenen Autoritarismus“, meinte dazu der Politologe Andrej Kolesnikow vom Moskauer Denkfabrik Carnegie Center. Kremlkritiker sehen einen Versuch, in Zeiten, wo sich unter anderem wegen der Corona-Krise die wirtschaftliche und soziale Lage verschlechtert, mit harten Urteilen Angst zu schüren und Proteste zu verhindern.